Der Park war noch nie so leer wie jetzt. Charles schlenderte über die Kieswege, bis er vor einem Busch innehielt. Der Busch war auseinander gerissen worden, um die Sicht auf Emily freizumachen. Sie lag im Busch – teilweise bedeckt von Blättern und Ästen, als ob jemand versucht hätte sie darunter zu verstecken. Emily trug noch immer ihr rosa Blümchenkleid, das sie gestern getragen hatte sowie ihre lauten Stöckelschuhe. Er kniete sich hin und sammelte vorsichtig ein paar Blätter von ihrem langen Kleid. Je mehr er freilegte, desto mehr getrocknetes Blut kam zum Vorschein. Auch die Blätter klebten schon an ihr. Als er ihr Gesicht freilegte starrte sie mit leeren Augen zurück. Ihr Gesicht war schmerzverzerrt und blass. Charles saß still neben ihr und sah sie traurig und besorgt an.
Plötzlich spürte Charles wie jemand den Kragen seiner Jacke packte und, bevor er reagieren konnte, ihn zurück zog und wieder zum stehen brachte. Der aufgebraucht Polizist stellte sich zwischen Charles und Emily. Charles rieb seinen Hals, während er den Polizisten genervt ansah, der ihn anbrüllte »Was fällt dir ein?! Das hier ist ein Tatort!«
Charles blieb unbeeindruckt. »Ich kannte Emily. Ich war die Person, die informiert werden wollte, wenn sie gefunden wird.« Keiner der Beiden brach den Augenkontakt.
»Ach wirklich, du bist also Charles Valentini?« Kurzes Schweigen. »Trotzdem kannst du nicht hier sein oder soll ich dich festnehmen, wegen Behinderung der Polizei?
Seufzend fuhr sich Charles mit der Hand durch die Haare. »Meinetwegen, obwohl Sie eigentlich die Person sind, die mich behindert.«, murmelte er vor sich hin.
»Was hast du gesagt?!«, fauchte der Polizist genervt.
»Nichts.« Lächelnd ging er rückwärts zurück. Nachdem er sich umdrehte, verschwand sein Lächeln sofort. Den Blick des Polizisten spürte er weiterhin in seinem Nacken. Genervt setzte er sich auf eine nicht weit entfernte Bank, damit er den Tatort im Auge behalten konnte. Um den Blick des Polizisten zu meiden, nahm er sein Handy aus der Jackentasche. Mit nur ein paar Klicks wählte er die Nummer seines Onkels. »Leider bin ich gerade nicht erreichbar. Bitte hinterlasse eine Nachricht nach dem Signalton.« Charles lehnte sich seufzend zurück. »Warum gehst du nicht ans Telefon, wenn ich dich brauche?« Er beobachtete wie die Wolken langsam über den Himmel zogen, um sich zu beruhigen. »Entschuldigung… Mr. … Valentini?« Charles schreckte auf. Kaum eine Handbreite entfernt von ihm war ein Mikrofon in seinem Gesicht. Langsam schob er es zur Seite, doch bevor er etwas sagen konnte fing der Reporter an weiter zu brabbeln. »Mr. Valentini, Sie arbeiten doch für Ihren Onkel Stefano Valentini, richtig?« Charles sah ihn mit einem verlorenen Blick an.
»Hm??«
»Ähm, ja, ich helfe bei ihm öfters aus.«
»Wir haben von Emilys Mord gehört« Der Reporter strahlte stolz.
»Das haben Sie wahrscheinlich von der Polizei, richtig?«, Er sah zurück zu dem Polizisten, der mich verscheucht hatte.
»Was halten Sie von dem Mord?«
»Es ist sehr tragisch und ich hoffe, dass der Verantwortliche schnell gefunden wird.« Sein Blick wanderte zurück zum Reporter.
»Es ist ja nicht das erste Mal, dass jemand, der Ihnen und Ihrem Onkel nahe stand, gestorben ist. Es war doch nur eine Frage der Zeit, bis sich die Ereignisse wiederholen würden. Habe ich recht?«
»Wollen sie etwa sagen, er hätte etwas damit zu tun?« Charles warf ihm einen bösen Blick zu. »Würden Sie es nicht in Betracht ziehen? Ich denke, die Fakten sprechen für sich. Schließlich wurden sie nie aufgeklärt.«
»Niemals, so etwas würde er nie tun.« Charles schüttelte den Kopf.
»Und was ist mit Ihnen?«
»Ich? Ich könnte Emily nie etwas antun! Sie war so ein nettes Mädchen…« Er setzte sich auf.
»Welches Alibi haben Sie denn für Mord?«
Charles Augen zuckten nervös von links nach rechts.
»Laut den Aussagen Ihres Onkels waren Sie zur Zeit des Verschwindens nicht Zuhause.«
»Das ist korrekt, ich war allein…, aber… ich war doch derjenige, der sie vermisst gemeldet hatte, als sie sich nicht meldete!«
»Das macht sie nicht weniger verdächtig.«
»Ich lass mir das nicht länger gefallen!« Er stand auf und ging am Reporter vorbei.
»Der Tod scheint Sie zu begleiten, habe ich Recht?«
Dieser Satz schallte durch Charles’ Gedanken wie ein Echo und er stoppte für einen Moment.
»Ich muss gehen.« Mit schnellen Schritten ging er die Straße runter nach Hause.
Als Charles das Haus betrat, sah er sich gereizt um und ließ die Tür hinter sich ins Schloss fallen. Das Wohnzimmer war voll mit diversen Fotografien, die dunkle Szenen von toten Tieren, Engeln oder auch Dämonen darstellten. Charles versuchte die Tür zu einem Nebenraum zu öffnen, doch sie war verschlossen. Mit einer geballten Faust pochte er gegen die Tür.
»Was willst du?«
»Lass mich rein!«
»Was willst du?«
Charles seuftze und hielt seine flache Hand gegen die Tür.
»Warum hast du der Polizei nicht gesagt, dass ich hier gewesen wäre?«
»Das wäre gelogen«
»Na und?! Jetzt verdächtigen die mich!«
Es wurde still. Diese Stille wurde durch das Klicken des Schlosses unterbrochen.
Charles ging einen Schritt zurück, als sich die Tür öffnete.
»Ich weiß nicht was ich tun soll… Ich war es doch nicht…«
Charles fing an zu schluchzen. Neben seinem Onkel kam er sich so klein und schwach vor.
»Sie werden dir nichts vorwerfen können.« Er umarmte Charles und streichelte behutsam seinen Kopf.
»Ich kann das nicht mehr… warum verfolgt mich der Tod…?«
»Es verfolgt uns alle. Mach dir keine Sorgen. Alles wird gut.« Charles stieß sich genervt weg.
»Natürlich verfolgt es mich! Wie kannst du nur so blind sein?!«
»Charles…«
»Warum versteht mich keiner…?« Er stampfte in sein Zimmer, knallte die Tür zu, ließ sich auf sein Bett fallen.
»Teenager…« Stefano seuftze und ging zurück in sein Arbeitszimmer.
Charles holte sein Handy aus der Jacke und spielte Musik ab, um sich zu beruhigen.
Nach einer Weile schlich sich Charles in die Küche, um sich einen Joghurt zu schnappen. Als er die Kühlschranktür schloss stand Stefano hinter der Tür. »Geht’s dir besser?« Ohne Antwort aß Charles seinen Joghurt und setzte sich auf die Couch. »Komm schon rede mit mir.«
»Was wäre wenn wir einfach von hier weglaufen?«
»Wovor willst du denn weglaufen?«
»Allem, denk ich mal. Alles hier erinnert mich an Melody…jeder hier kennt mich, was das ganze nur umso schlimmer macht und jetzt verdächtigen die mich einen Mord begangen zu haben…«
»Die werden schon merken, dass du nichts gemacht hast.«
»Ja, aber es wird nur immer schlimmer. Wer auch immer hierfür verantwortlich ist, wird vermutlich nicht damit aufhören bis ich meinen Verstand verliere oder für Mord im Knast lande.«
»Jetzt bist du aber dramatisch.« Stefano rollte amüsiert die Augen.
»Jetzt schau micht nicht so an. Es wäre doch super in eine neue Stadt zu ziehen, wo keiner einen kennt. Ein richtiger Neuanfang.« Charles’ Augen funkelten vor Begeisterung und Hoffnung.
»Ob das wirklich so eine gute Idee ist…« Stefano kratze sich am Hinterkopf.
»Vielleicht würde dort auch endlich mal jemand deine Bilder kaufen.« Charles stand auf, um seinen Joghurtbecher wegzuwerfen.
»Hm, kein schlechter Punkt. Vielleicht würde dann jemand meine Kunst zu schätzen wissen.«
»Hab ich Recht?«
»Und wo willst du hin?«
»Ich bin froh, dass du fragst.« Er warf Stefano voller Begeisterung sein Handy zu. Dieser sah zu wie das Handy auf die Couch fiel und zog es dann zu sich. »Eden? Ist das dein Ernst?«
»Exakt, die sicherste Stadt der Welt. Dort hätten wir endlich unsere Ruhe. Wir müssen nur einen Test bestehen. Das sollte einfach sein.«
»Ein Test? …Wenn du meinst…« Seine Begeisterung hielt sich in Grenzen.
»Wir können es doch wenigstens versuchen. Es gibt nur eine bestimmte Anzahl von Plätzen, also wer weiß.«
»Dieses Interview ist verdammt weit weg.«
»Wir können dort übernachten. Darüber brauchst du dir keine Sorgen machen«
Stefano seuftze. »Meinetwegen…« Er ging zurück in sein Arbeitszimmer ohne weitere Worte.
Charles schaute ihm verdutzt nach ohne sich vom Platz zu bewegen. Nachdem die Tür ins Schloss fiel, ging er zur Couch und schaute auf sein Handy. »Es wird sich endlich alles ändern. Ich weiß es.« Lächelnd ließ er sich auf die Couch fallen und scrollte weiter auf seinem Handy.
Ein paar Tage später war es endlich soweit. Die Beiden packten ihre Sachen ins Auto und machten sich auf den Weg. Charles bewunderte die vorbeifliegenden Landschaften. Bisher hatte er noch nie seine Heimatstadt verlassen. Im Gegensatz zu seinem Onkel, welcher früher viel gereist war. Charles’ Sicht von der Außenwelt bestand zum Großteil aus Erzählungen und Bildern von seinem Onkel, da er sich nicht mehr an die Urlaube mit seinen Eltern erinnern konnte.
Nach einer abteuerlichen stundenlangen Fahrt erreichten sie einen riesigen Hotelkomplex nahe einer großen Stadt. Charles sprang aus dem Auto während Stefano das Auto parkte. Vor dem Hotel hatte sich schon eine große Menge Menschen gesammelt, die mit aller Kraft versuchte nach drinnen zu kommen. Viele der Leute wedelten aufgeregt mit ihren Anmeldezetteln herum.
Charles’ verlor durch das Rauschen der vielen Stimmen schnell seine Begeisterung. Unsicher zog er sich kurzerhand zurück in die Schatten, um ungesehen das Geschehen beobachtenzukönnen. Er drückte sich mit dem Rücken gegen die Wand und tippte auf seinem Handy. »War das vielleicht doch ein Fehler?« , überlegte er verunsichert und ließ seinen Blick über die Menschenmenge gleiten. Als sich sein Blick mit dem eines ihm unbekannten Mannes kreuzte brach Charles den Augenkontakt sofort ab und zog sich seine Kaputze über den Kopf.
»Alles okay bei dir?« Charles stolperte zur Seite, als er bemerkte, dass sich Stefano neben ihn gestellt hatte. »Erschreck mich doch nicht so!« Er boxte Stefano leicht und lächelte ein bisschen. »Zu viele Menschen?«
Charles nickte stumm.
»Lass uns etwas warten. Schließlich haben wir es nicht eilig.«
Langsam wurde die Menschenmenge weniger. Daraufhin gingen die zwei entspannt zur Anmeldung und gaben die Zettel ab. Drinnen war es menschenleer. Charles nahm seine Kaputze ab und sah sich erleichtert um. Den Gang entlang waren Pfeile, die zu den Tests zu führen schienen. Charles lief aufgeregt den Gang hinunter. Stefano folgte ihm langsam und schaute sich jede Tür, an der er vorbei lief, genau an. Charles wurde von einem Sicherheitsmann in einen Raum gewunken. Er war fast komplett leer geräumt. An einem Tisch saß eine junge Frau im Laborkittel mit mehreren Stapeln Akten. »Bitte setz dich.«
Charles setzte sich verwirrt auf den leeren Stuhl ihr gegenüber. »Kannst du mir deinen Namen nennen?«
»Charles Valentini.«
»16 Jahre?«
»Genau«
»Füllst du bitte diesen Zettel für mich aus?« Sie reichte ihm ein Klemmbrett mit einem Persönlichkeitstest. Charles nickte und füllte ihn bedacht aus, während sie sein Verhalten beobachtete.
»Hast du eigentlich Haustiere?«
»Nein, leider nicht mehr.«
»Und du lebst noch bei deinem Onkel?«
»Ja, wir wollen zusammen nach Eden ziehen.«
»Gut, warum ist die Entscheidung auf Eden gefallen?«
Charles stoppte das Ausfüllen und schaute ernst zu ihr. »Es soll die sichereste Stadt weltweit sein und ich… naja ich fühle mich nicht sicher. Außerdem sehnen wir uns nach einem Neustart, da mich in meiner Heimatstadt schon jeder kennt.«
»Wirklich?« Sie schaute ihn kritisch an.
»Naja, meine Eltern waren relativ bekannt in unserer Stadt… und jetzt will ich lieber diese Zeit hinter mit lassen.«
Die Frau überflog kurz einen ihrer Zettel und nickte dann verständnisvoll. Charles füllte weiter den Zettel aus.
»Ist das hier alles?«, meinte Charles verwirrt und legte das Klemmbrett auf den Tisch.
»Fürs Erste, ja. Im Raum am Ende des Gangs gibt es das Abendessenbuffet. Danach kannst du dann zu deinem Zimmer.« Sie kramte einen Schlüssel aus einer Kiste und warf ihn zu Charles, der ihn mit Leichtigkeit fing.
»Alles klar. Dann bis morgen.«
»Morgen gibt es dann mehr Untersuchungen.«
Charles nickte, packte den Schlüssel in seine Jackentasche und verließ mit einem unguten Gefühl den Raum. Mit schnellen Schritten lief er durch den Gang. Mit jedem Schritt wurde er schneller. Am Ende des Ganges platze er durch die Tür in den Essensraum. Glücklicherweise beachtete ihn keiner, also schloss er vorsichtig die Tür. Wie ein Wiesel schlängelte er sich durch die hungrigen Menschen auf der Suche nach Stefano, welcher bereits am Essen war. »Da bist du ja!« Charles ließ sich erleichtert neben ihm auf einen Stuhl fallen.
»Du hast ja lang gebraucht.« Stefano grinste.
»Dieser Test war doch ein Witz, oder?« Charles schnappte sich ein Apfelstück von Stefanos Teller.
»Das ist nicht mal das Seltsamste hier. Ist dir nichts aufgefallen?«
»Was genau meinst du?«
»Würden Familien mit kleinen Kindern nicht Edens Schutz am meisten brauchen?«
»Ich denke mal schon…« Charles sah sich verwirrt um. Tatsächlich war niemand jünger als er selbst.
»Also, was denkst du von diesem Stadt-Programm?« Stefano grinste amüsiert.
»Komm schon sei nicht so pessimistisch. Das wird toll, endlich können wir neu anfangen.«, lachte Charles amsiert.
»Wenn du meinst… also ich habe ein ungutes Gefühl bei der Sache.« Misstrauisch betrachtete er die Menschen die sich um das Buffet drängten.
»Naja wie auch immer mal schauen ob wir die Tests überhaupt bestehen.« Charles grinste frech und schnappte sich noch etwas zu Essen. »Ich bin dann mal in meinem Zimmer.« Ohne Stefano zu Wort kommen zu lassen, verschwand er in der Menge. Stefano sah ihm besorgt nach. Als er weg war, seufzte er und wand sich seinem restlichen Essen zu. Charles verließ den Raum mit ein paar weiteren kleinen Snacks und machte sich auf die Suche nach seinem Zimmer. Er drückte den Knopf am Fahrstuhl, während er versuchte sich die Nummer seines Zimmers einzuprägen. Während er entspannt wartete, bemerkte er einen Zettel auf dem stand, dass der Fahrstuhl kaputt sei. Als sich die Türen trotzdem vor ihme öffneten, zuckte er mit den Schultern und ging hinein. Selbstbewusst drückte er den Knopf 4, als wäre es schon Gewohnheit. Bevor sich die Türen schlossen, hörte er jemanden. »Fahrstuhl in Bewegung.« Charles stand in Stille und sah sich verwirrt um, doch es war nur ein normaler Fahrstuhl. Er lachte und schüttelte seinen Kopf und sah in den Wandspiegel. »Ich werde noch verrückt. Hoffentlich ist Eden das was ich brauche.« Er schien auf eine Antwort seines Spiegelbilds zu warten. »War das die richtige Entscheidung? Ich werde es wohl bald wissen.« Die Fahrstuhltür öffnete sich und Charles sah die offene Tür zögernd an, doch entschied sich dann doch auszusteigen bevor sich der Fahrstul schließen konnte. Im Gang herrschte Totenstille. Jeder seiner Schritte hallte durch den Gang. Ein mulmiges Gefühl beschlich Charles. »Die müssen noch alle beim Buffet sein…« Dachte er sich, um sich zu beruhigen. Während er auf jegliche Geräusche lauschte, hörte er wie sein Herz anfing immer schneller zu schlagen. Aber alles blieb still. Vorsichtig öffnete er seine Zimmertür und ließ sie dann hinter sich ins Schloss fallen. Von draußen leuchteten die letzen Sonnenstrahlen in sein Zimmer. Charles stopfte sich noch etwas von seinem erbeuteten Essen in den Mund und ließ den Rest auf einem Tisch neben dem Fenster liegen. Gähnend zog er die Vorhänger etwas weiter zu und ließ sich rückwärts auf sein Bett fallen. Es war so weich wie eine Wolke in der man versinken könne. Charles konnte seine Augen kaum offen halten als ihn die Müdigkeit übermannte.