Ein lautes Piepen riss Charles aus seinem Schlaf. Hektisch rappelte er sich auf und sah sich verwirrt um. Auf seinem Handy blinkte eine Nachricht. “Bitte begebe dich zur Schule in den Raum C0 13.” Schnell beendete er das nervtötende Piepen mit einem Klick auf das X. Endlich kehrte Ruhe ein. In seinem Kopf kreisten noch immer Reste seines Traums, die so zerfetzt waren, dass man sie niemals rekonstruieren könnte. Gähnend streckte er sich und schlurfte unmotiviert in die Küche. Langsam kam die Müdigkeit zurück, das konnte er nicht zulassen, also machte er sich einen Kaffee. Mit einem tiefen Atemzug nahm er den warmen Duft auf. Es war still, nur draußen zwitscherten die Vögel. Genüsslich trank er seinen Kaffee, während er ein paar Dinge wie einen kleinen Block und einige Stifte zusammensammelte. Er ließ sie in seiner Innentasche verschwinden, stellte seine leere Tasse neben die Spüle und machte sich auf den Weg zur Schule.
»Diesmal wird es anders. Hier kennt mich keiner. Ich schaff’ das, ich darf nur nicht seltsam sein. Sei nicht seltsam. Hoffentlich macht mir Samuel das nicht kaputt, er ist ganz ok, aber er weiß zu viel…«, murmelte er vor sich hin.
Oben auf dem Berg thronte die Schule, ein etwas auf alt gemachtes Gebäude, das alles überwachen konnte. Auf dem gegenüberliegenden Berg auf der anderen Seite der Stadt befand sich die Kirche mit ihren funkelnden Verzierungen entlang des Turmdachs.
An der Tür hingen Zettel mit der Klassenverteilung. Jede Jahrgangsstufe hatte genau eine Klasse. Schnell fand Charles seine und machte sich auf den Weg zu seinem Klassenzimmer. In den leeren Gängen hörte er das Echo seiner Schritte. Wenn er an Räumen vorbeilief, konnte er die Gespräche durch die angelehnten Türen hören. Kurz vor Ende des Gangs blieb er stehen. C0 13, das muss es sein. Vorsichtig drückte er die Tür auf. Drinnen waren schon ein paar seiner neuen Mitschüler, die es sich schon gemütlich gemacht hatten. Aufmerksam sah er sich jeden genau an. Keiner von ihnen kam ihm bekannt vor. Keiner schenkte ihm Aufmerksamkeit und ruhig bahnte er sich seinen Weg durch die Tische zu einem Fensterplatz. So leise wie möglich ließ er sich nieder, holte seinen kleinen Notizblock aus seiner Jackentasche, sowie einen Stift und fing an, kleine Katzen zu zeichnen. So wie immer mehr Kätzchen auf dem Blatt erschienen, tauchten auch immer mehr seiner Mitschüler auf.
»Entschuldigung, ist hier noch frei?«
Überrascht sah Charles auf. Neben dem Tisch stand ein Mädchen mit langen welligen braunen Haaren und blauen Augen, die im Sonnenlicht funkelten.
»Ähm, ich, ja, ähm, ja, ich denke schon.« Stotterte er überfordert vor sich hin.
»Dank dir.« Amüsiert setzte sie sich neben ihn. »Ich bin übrigens Cindy und du?«
»Ich bin Charles.« Er lächelte leicht nervös.
»Du hast dir einen guten Platz ausgesucht, das muss ich schon sagen.« Sie warf einen Blick an Charles vorbei aus dem Fenster.
»Man kann von hieraus die ganze Stadt sehen.«
»Tatsache, da hinten ist mein Haus, da hinten ganz am Rand.« Sie zeigte auf ein kleines Haus, am anderen Ende der Stadt.
»Meins ist etwas mehr im Zentrum. Da vorne. Das dritte von links.«
»Hey, ihr Zwei.« Samuel ließ sich auf den Stuhl vor ihnen fallen.
»Darf ich vorstellen? Das ist Samuel und Samuel, das ist Cindy.«
»Schön dich kennenzulernen.« Sie lächelte. »Kennt ihr euch schon länger?«
»Jap, wir kommen aus derselben Stadt, da waren wir auch in der selben Klasse und…«
Charles warf Samuel einen kritischen Blick zu, was ihn zum Schweigen brachte.
»Das ist doch schön. Ich kenne noch niemanden hier außer euch zweien jetzt.«
»Dann hoffe ich, du bist bereit für Abenteuer, denn mit uns wird es nicht langweilig.« Samuel grinste überlegen.
»Ihr seid lustig.« Sie schmunzelte.
Mit einem lauten Knall schloss sich die Tür des Klassenzimmers, was alle zum Verstummen brachte. Man hörte die lauten Stöckelschuhe der Lehrerin. Sie strich ihre kurzen rotgefärbten Haare zurück und richtete ihre Brille.
»Guten Morgen, Klasse. Ich hoffe ihr seid gut angekommen in unserem wunderschönen Eden.«
Einige der Klasse nickten asynchron. Charles‘ Gedanken schweiften ab und verloren sich in Katzen und alles andere, dass es wagte sich dazwischen zu drängen, wurde zu einer Katze für sein Skizzenbuch. Miau. Miau. Miau. Er fing an, seine Klassenkameraden als Katzen zu zeichnen. Ein leiser Kichern stahl seine Aufmerksamkeit. Cindy beobachtete ihn schon eine Weile beim Zeichnen.
»Wer ist das?« Sie zeigte auf ein kleines schwarzes Kätzchen, dass neben dem Charles Kätzchen stand.
»Das ist Maxis, er war mein erstes und letztes Haustier bis jetzt.«
»Wie niedlich, ich hatte mir früher auch eine Katze gewünscht, aber meine Mutter hat es mir verboten eine mit nach Hause zu bringen.«
»Schade, meine Mutter hatte mir den Kleinen selbst mitgebracht. Er war so niedlich und weich.«
Cindy wollte noch etwas sagen, wurde aber von einem Räuspern der Lehrerin unterbrochen. Sie starrte die Beiden an und redete dann weiter. Cindy lächelte amüsiert und spielte mit ihrem Stift. Charles lächelte unsicher und sah aus dem Fenster. Draußen flog ein Schwarm Vögel vorbei. Die Zeit verging wie im Flug. Charles zeichnete und träumte vor sich hin, während Cindy fleißig mitschrieb.
In der Pause setzten sich die Drei an einen Tisch in der Mensa.
»Für den ersten Tag doch gar nicht schlecht.« Cindy lächelte, während sie ihr Essen inspirierte.
»Ich hätte eher gesagt, sterbenslangweilig.« Samuel fing an, zu essen.
»Stimmt doch, oder?« Samuel sah zu Charles, der lustlos in seinem Essen stocherte.
Charles sah auf und legte die Gabel wieder hin. »Mathe war ganz ok, aber das ganze Organisatorische am Anfang war schon echt langweilig.«
»Ach kommt, das war doch relativ wenig.«, meinte Cindy.
»Ich weiß nicht, was für dich wenig ist, aber ich wäre fast eingeschlafen.« Samuel grinste.
Cindy rollte die Augen. »Ihr habt gar nicht aufgepasst, hab ich recht?«
»Als ob das so wichtig war.« Samuel sah zu Charles für Unterstützung, aber er war kaum anwesend.
»Dann habt ihr das Interessanteste verpasst. Im Wald soll sich nämlich ein Bär herumtreiben und jetzt ist er erstmal gesperrt, bis sie ihn gefunden haben.«
»Ein Bär? Ich hab keinen gesehen.« Murmelte Charles geistesabwesend.
»Was meinst du? Warst du im Wald?« Cindy sah ihn überrascht an.
Charles zuckte zusammen, als er aufsah, bemerkte er die Blicke der Beiden.
»Ich ähm, also… ja… ja, ich war im Wald. Ich hab’ mich da mal umgesehen.« Er wich den Blicken aus.
»Das passt zu dir, dich in dunklen Wäldern rumzutreiben.« Samuel lehnte sich auf seinem Stuhl zurück.
»Aber das schließt ja nicht aus, dass sich dort ein Bär herumtreibt. Hast du irgendwelche Spuren gesehen?«, zweifelte Cindy.
»Nein, ich wüsste aber auch gar nicht, wonach ich suchen sollte.« Charles sah unsicher zur Seite.
»Warum warst du überhaupt im Wald?«
»Da war so ein seltsames Geräusch und wollte mal nachschauen, wo das herkam.«
»Und was war da?« Samuel setzte sich interessiert auf.
»Ein verlassenes Haus, nichts allzu Spannendes.«, wehrte Charles ab.
»Und im Haus? Hast du etwas Interessantes gefunden?« bohrte er weiter.
Charles zögerte.
»Wollen wir uns wirklich den Spaß des Erkundens verderben lassen?« Cindy schob sich in den Mittelpunkt. »Lasst uns auf ein Abenteuer gehen und herausfinden, welche dunklen Geheimnisse in diesem Haus schlummern.«
»Ja, lasst uns nach der Schule dorthin gehen!« Samuels Augen funkelten begeistert.
»Ich weiß nicht, ob das so eine gute Idee ist.«, ergänzte Charles leise.
»Mit dem Bär werden wir schon klar kommen. Schließlich waren wir alle schon mal Bären jagen, oder nicht?« Cindy sah von einem zum anderen, aber beide schüttelten die Köpfe.
»Bei uns gibt es so gut wie keine Bären und wenn lege ich mich doch nicht mit denen an.«
Charles nickte zustimmend.
»Stadtkinder… aber mit einer Waffe umgehen könnt ihr doch, oder?«
»Schon, aber ich habe keine. Mein Onkel hat sie mir weggenommen.« Charles überlegte.
»Wenn ihr welche habt, brauche ich keine, oder?« Samuel lächelte nervös.
»Ach, so kompliziert ist das nicht. Zusammen können wir es dir beibringen. Dann werde ich euch mal Waffen organisieren. Das sollte kein Problem sein.« Cindy lächelte und tippte auf ihrem Handy.
»Ich weiß nicht, ob das so eine gute Idee ist. Ich hab zwar keinen Bär im Wald gesehen, aber ich… naja…« Er zögerte, würden sie ihn für verrückt halten, schließlich war er sich selbst nicht sicher wie viel davon wirklich passiert war. »… naja ich wurde von Männern in Schwarz angegriffen, die sich bei dem Haus aufgehalten haben. Sie haben mich gejagt und auf mich geschossen.«
»Du wurdest angegriffen? Hast du es gemeldet?« Cindy sah von ihrem Handy auf und sah zu Charles, der sich nervös mit der Hand durch die Haare fuhr.
»Was? Äh, nein… Ich… Ich meine, die würden mir sowieso nicht glauben. Ich wollte euch nur vorwarnen, nicht, dass… dass sie wieder auftauchen.« Er brach den Augenkontakt mit Cindy.
»Du machst auf mich keinen verletzten Eindruck.«
»Ach, das ist typisch für ihn. Egal was für ein Unfall, er kommt ohne einen Kratzer da raus. Habe ich nicht recht?« Samuel mischte sich wieder ein.
»Samuel!«, fauchte Charles, der schon bereute, irgendwas gesagt zu haben.
»Was denn?? Das zählt doch nicht und es ist doch wahr.«
Cindy sah die Zwei verwirrt an.
Charles seufzte und wandte sich seinem Essen zu.
»Also haben sie dich nicht erwischt?« Cindy beobachtete ihn ungläubig.
Charles zögerte. »Ich bin knapp entkommen. Sie haben mich zweimal verfehlt.«
»Und damit hast du keine Beweise, dass das wirklich passiert ist.« Samuel sah Charles etwas mitleidig an.
»Vielleicht wollten sie dich auch nur von dem Haus fernhalten und haben deswegen von dir abgelassen. Das wird immer spannender.«, grübelte Cindy.
»Dann muss dort aber etwas sehr Wertvolles versteckt sein.«, vermutete Samuel.
»Sei nicht so gierig.« Charles sah ihn vorwurfsvoll an.
»Vergiss nicht, ihr werdet auch Waffen haben. Die sollten also eher Angst vor uns haben.« Samuel lehnte sich stolz zurück.
»Du sagst es.« Cindy grinste amüsiert.
»Also ist es ausgemacht. Wir gehen zu diesem Haus und finden heraus, was die dort beschützen.«, fasste Samuel zusammen.
Charles wollte etwas ergänzen.
»Genau, dann müssen wir vorher nur kurz bei mir Zuhause einen Zwischenstopp einlegen. Das wird Spaß machen.« unterbrach Cindy ihn.
»Ich hoffe, dass alles glatt läuft.«, murmelte Charles.
»Was wäre denn ein Abenteuer ohne Action?« Cindy stupste ihn spielerisch an.
Charles lächelte unsicher. »Tagsüber werden wir hoffentlich keinem Bären begegnen, schließlich sind sie nachtaktiv, soweit ich gehört habe.«
Cindy zuckte mit den Schultern.
»Ich hab auch schon welche am Tag gesehen. Das erste Mal jagen ohne meinen Vater. Das wird Spaß machen.«
Cindy und Samuel waren Feuer und Flamme für die Mission. Charles saß grübelnd daneben und bereute seine Entscheidungen, doch er wurde dabei von der Schulglocke unterbrochen.
»Geht ihr zwei schon mal vor. Ich muss noch was beim Sekretariat abholen.«
Cindy schnappte sich ihr Tablet und stand auf.
»Bis in Chemie.« Charles lächelte leicht.
»Alles klar, dann bis später.« Samuel lächelte.
»Bis später.« Sie winkte kurz amüsiert und ging dann zur Geschirrabgabe.
Samuel sah zu Charles, der vor seinem halb gegessenen Essen saß.
»Isst du das noch?«
»Du kannst es gern haben.« Er schob sein Tablet über den Tisch zu Samuel.
Samuel lächelte und begann die letzten Reste zu vernichten.
Charles beobachtete wie die anderen an der Abgabe anstanden und zurück zu ihren Klassenzimmern eilten, als ob auf Verspätung die Todesstrafe stehen würde. Keiner von ihnen beachtete ihn.
»Hey, ähm, Charles, diese Männer, die du erwähnt hattest. Waren das Leute von Osiris?«
Charles sah Samuel stumm an und wägte ab, ob er es ihm erzählen sollte oder nicht.
»Ich dachte nur wegen gestern, vielleicht hat es was miteinander zu tun.
Schließlich bin ich nicht so dumm wie manche meinen.« Er grinste amüsiert.
»Ich weiß schon und… ja … ok, du hast Recht.«
»Du hast dich also wieder mit der Polizei angelegt.«, neckte er Charles.
»Ja, aber Osiris ist anders.«
»Anders inwiefern?«
»Aggressiver…«
Samuel lachte.
»Das war kein Scherz!«
»Charles, Charles, Charles, du weißt schon, dass die dich in Contin nur so verhätscheln, weil deine Eltern reich waren, oder?«
Charles sah ihn verwirrt an. Samuel unterdrückte sein Lachen.
»Hier bist du genau wie alle anderen. Kein extra Status. Das ist doch was du wolltest, oder?«
Charles öffnete den Mund, aber es kamen keine Worte heraus.
»Die Polizei, dein Freund und Helfer ist nur eine Lüge für so reiche Kinder wie du.« Vorwurfsvoll sah er zu ihm hinüber.
»Das ist doch vollkommen egal jetzt. Das hier ist etwas anderes.«
Charles vermied jeglichen Blickkontakt und beobachtete stattdessen wieder die anderen Schüler.
»Wenn du meinst.« Samuel aß weiter.
Unwohl rieb Charles seinen Arm. »Ich mach mir nur Sorgen, dass ich euch in Gefahr bringe mit dieser Aktion. Ich hätte euch nicht davon erzählen sollen.«
»Es ist schon riskant, aber du kannst doch jetzt nicht vor Cindy einen Rückzieher machen. Da wird schon nichts passieren.«
»Aber es ist nicht so, dass sie uns einfach festnehmen wegen Hausfriedensbruch.« Charles rieb sich unsicher den Arm.
»Glaubst du wirklich, dass sie dich töten wollten? Ich halte das für sehr unwahrscheinlich. Das sind schließlich nur Menschen, die ihren Job machen.«
Charles zwang sich dazu, zu schweigen. Schließlich würde Samuel ihm das nicht glauben.
»Manchmal machst du dir echt zu viel Sorgen, dafür was du schon alles überlebt hast.«
»Ich mach mir auch keine Sorgen um mich, sondern euch. Hörst du mir nicht zu?«
»Schon, aber das ist irrelevant. Cindy hat Waffen, vergiss das nicht.«
»Samuel, Waffen helfen dir nicht, wenn du nicht damit umgehen kannst.«
»Cindy wollte es mir doch beibringen. Wir schaffen das schon.«
»Wäre ich nur halb so optimistisch wie du.« Charles seufzte.
»Ich werde dich vor diesen Osiristypen beschützen. Du wirst schon sehen.« Grinsend stapelte er die zwei Tablets und machte sich auf den Weg zur Abgabe.
»Wenn sie angreifen, wirst du rennen, hörst du mich?« Charles folgte ihm nervös.
»Wie willst du dich verteidigen? Mit einer Panikattacke?«
»Das ist nicht witzig…« Charles verschränkte die Arme.
»Ein bisschen vielleicht. Tu doch nicht so, als wärst du der starke Waffenprofi hier. Ich weiß doch, wie viel Angst du vor denen hast.«
»Angst? Nein, Respekt. Ich hab nur Respekt davor. Das solltest du vielleicht auch haben.«
»Vielleicht sollte ich das, wir werden sehen, was besser funktioniert.« Samuel stellte das Tablet ab und ging den jetzt schon fast ganz leeren Gang entlang.