Einige Zeit später spazierte Charles durch den Wald am Stadtrand. Je weniger er von der Stadt sehen oder hören konnte, desto besser. Mit jedem Schritt wurde der Wald dunkler und dichter. Hier war es so still, dass man nicht einmal die Vögel mehr hörte. In all der Ruhe ließ er sich auf einem umgefallenen Baum nieder und schloss die Augen, um die Stille zu genießen. Plötzlich schossen ihm wieder die Bilder seines Vaters in den Kopf. Schnell riss er seine Augen wieder auf und sah sich paranoid um. Dabei bemerkte er ein lautes rhythmisches Klappern. Neugierig stand er auf und folgte dem Geräusch tiefer in den Wald. Alles war still, nur seine Schritte und das Klappern waren zu hören. Ein kühler Windzug fegte durch die Bäume und wirbelte ein paar Blätter auf. In der Ferne konnte Charles den Umriss von etwas Großem erkennen. Als er näher kam, sah er ein altes verlassenes Haus. Die Wände waren mit Moos und Efeu bewachsen, die Scheiben zerschlagen und die Tür hing nur noch schief an ihrem Platz. Das Klappern kam aus dem Haus. Daran gab es keinen Zweifel. Vorsichtig öffnete Charles die Tür einen Spalt breit, um sich hinein zu schleichen. Quietschend gab die Tür nach und fiel hinter ihm wieder zu. Drinnen hörte man das Klappern noch lauter, es schallte aus jeder Richtung. Hinter einer Ecke befand sich die Küche, in der noch verstaubte Töpfe, Teller und Pfannen standen. Charles stellte einen umgefallenen Stuhl wieder auf und ging vorbei ins nächste Zimmer. Es war ein voll eingerichtetes Wohnzimmer mit Teppich, Couch und einem Schrank mit unzähligen dekorativen Tassen und Tellern. Ein starker Windzug schlug eines der Fenster zu, was Charles zusammenzucken ließ. Langsam öffnete es sich wieder und schlug wieder zu. Er ging zum Fenster, schloss es vorsichtig und schob den Riegel vor. Es war wieder still. Charles spazierte weiter und kam zum Treppenhaus. An der Treppe befand sich eine große Stahltür, die viel neuer aussah als der Rest des Hauses. Eine Ecke vom Teppich hielt die Tür davon ab, sich zu schließen. Vorsichtig drückte er die Tür auf. Dahinter ging eine klinisch weiße Treppe hinunter in den Keller. Die Neugier packte ihn und langsam schlich er hinunter. Sie war kürzer als er erwartet hatte. Am Ende der Treppe war ein Gang, der so lang war, dass man sein Ende nicht sehen konnte. Alles war strahlend hell beleuchtet, doch es herrschte eine unheimliche Stille. Charles Schritte hallten von überall wieder. Alle Türen im Gang waren so weiß und glatt wie die Wände, wodurch man sie kaum sah. Nur das leuchtende „LOCKED“-Schild über jeder Tür verriet sie. In der Ferne blinkte ein grün leuchtendes Schild. Vorsichtig ging er hin und drückte die Tür auf. Ohne ein Geräusch von sich zu geben, öffnete sie sich. Aus dem Raum kam lautes Lachen. Leise ließ er die Tür hinter sich zu gleiten. Charles fand sich in einer Art Pausenraum wieder. Die rechte Wand entlang reihten sich Snackautomaten. Am Ende der Reihe riskierte Charles einen Blick um die Ecke. Dort fand er einige Tische, die wie in einer Cafeteria in Gruppen angeordnet waren. In der Mitte des Raums standen einige Männer in Osirisuniform. Sie lachten einen aus, der als Einziger in der Gruppe eine Uniform mit durchgestrichenen Augen trug. Jedes mal, wenn er versuchte aufzustehen, traten sie ihn wieder zu Boden. Drumherum saßen andere Leute in verschiedensten Osirisuniformen und sahen nur stumm zu oder konzentrierten sich auf ihr Essen. Charles lief ein Schauer den Rücken hinunter. Langsam ging er rückwärts, um nicht entdeckt zu werden. Doch er stolperte gegen jemanden. Vor Schreck zuckte er zusammen. »Was machst du denn hier? Bewohner haben hier keine Zutrittsbefugnis.«
»Ich wollte sowieso gerade gehen.«
Er schob sich am Osirismitarbeiter vorbei in Richtung des Ausgangs.
»Nein, du bleibst lieber hier.« Er versuchte Charles Arm zu greifen, doch dieser wich geschickt aus und stürmte durch die noch offene Tür hinaus auf den Gang. Überraschenderweise folgte der Osirismitarbeiter ihm nicht. Charles sah zurück und wurde langsamer, als er bemerkte, dass er nicht verfolgt wurde.
»Das war zu einfach.« Murmelte er vor sich hin, während er den Gang entlang ging.
In der Ferne hörte er das Echo einiger Osirismitarbeiter. Oben angekommen, schloss er die Tür, schnappte sich den Stuhl aus der Küche und klemmte ihn unter den Türknauf, in der Hoffnung, dass es seine Verfolger, falls es welche gab, aufhalten würde. Genau in dem Moment hörte er von der Haustür aus ein lautes Knacken, das von draußen zu kommen schien. Erschrocken starrte er auf die Tür am Ende des Hausflur an. Ohne viel nach zu denken ging er die Treppe hoch, um Distanz zwischen sich und der Tür aufzubauen. Die Stufen knarrten unter seinen Schritten, was ihn ausbremste. Er schlich in den erst besten Raum, ohne sich weiter umzusehen und schloss die Tür hinter sich. Gerade rechtzeitig, denn er konnte deutlich das Quietschen der Haustür hören. Er setzte sich mit dem Rücken gegen die Tür und lauschte auf Geräusche. Die Person im Untergeschoss war aber nicht darauf aus, leise zu sein, so laut wie sie durch das Haus stampfte.
»Glaubst du wirklich, dass jemand hier ist?« Eine weitere Person öffnete quietschend die Tür.
»Auf jeden Fall ist jemand hier und jetzt shh!« Wurde er von einer Frau angefaucht. Sie nahm den Stuhl von der Tür weg und stellte ihn an seinen ursprünglichen Platz zurück.
»Du hast Recht. Ich hab…«
»Sei still!« Flüsterte sie aggressiv.
Sie gingen in einen anderen Raum. Charles konnte sie flüstern hören, doch verstand kein Wort. Bald fiel alles in Totenstille, die nur hin und wieder durch ein quietschendes Brett durchbrochen wurde. Er sah sich in dem Raum, in dem er sich versteckt hatte um. Es war ein altes Schlafzimmer mit einem halb offenen Schrank, Nachttisch und einem alten Bett am Fenster. Vorsichtig schlich er hinüber und sah aus dem Fenster. Unten wuchsen einige Büsche rund um das Haus. Hinter sich hörte er das Knarzen der Treppe. Vorsichtig drückte er das Fenster auf, dass sich mit einem langen Quietschen öffnete und zog die Decke vom Bett. Mit Schwung warf er die Decke auf die Büsche. In der Stille konnte er unverkennbar das Nachladen einer Pistole hören. Sein Atem stockte und ohne auf ein weiteres Geräusch zu warten, sprang er aus dem Fenster und landete auf der Decke. Mit einem lauten Knacken und Rascheln brach der Busch unter seinem Gewicht zusammen. So schnell, als hätte er es schon tausende Male gemacht, rappelte er sich auf und lief in den Wald. Er hörte das Klappern und Knarzen des Hauses und dann schnelle Schritte.
Ein Knall und neben ihm schlug eine Kugel in einen Baum ein. Charles stolperte zur Seite und verlor fast das Gleichgewicht. »Scheiße…« Fauchte er zu sich selbst. Um seinen Verfolger abzuschütteln, schlug er sich durch einige Büsche, doch die Schritte kamen immer näher. Also stoppte er abrupt und versteckte sich hinter einem großen Baum. Er versuchte sein Handy aus der Jacke zu ziehen, doch seine Hände zitterten so stark, dass er es fast fallen ließ. Für einen Moment schloss er die Augen und zwang sich, langsamer zu atmen. Mit einem tiefen Atemzug öffnete er die Augen wieder und tippte eine Nachricht an Stefano. Hinter dem Baum konnte hören, wie die Schritte leise, vorsichtiger geworden waren und immer näher kamen. Auf dieser Distanz hätte er kaum Überlebenschancen, schätze Charles. Eine Kugel würde reichen und er wäre tot und ohne Ablenkung würde er nicht entkommen können. Sein Blick fiel auf sein Handy, er überprüfte seine Nachricht noch einmal und warf sein Handy so weit weg wie er konnte. Mit einem dumpfen Schlag und einigem Rascheln landete es auf dem Boden, gefolgt von einem weiteren Schuss. Charles hielt sich den Mund zu und wartete, bis sein Verfolger am Baum vorbei ging, um das Geräusch zu untersuchen. Vorsichtig schlich Charles in die entgegengesetzte Richtung zurück in Richtung des Hauses. Es war still, er war die Beiden fürs erste los. Erleichtert seufzte er und ging in die Richtung, die zurück nach Eden führen sollte. Der Weg zog sich aber immer länger und schien kein Ende zu nehmen. Bäume, überall Bäume, kein Fluss, keine Häuser. So lang hatte er den Weg zum verlassenen Haus nicht in Erinnerung. Unbewusst lief er immer schneller, in der Hoffnung, bald da zu sein.
»Nicht so schnell, Kleiner.« Eine Frau in Osiris Uniform trat hinter einem Baum hervor und stellte sich ihm in den Weg.
Erschrocken stolperte Charles ein paar Schritt zurück und blieb stumm stehen.
»Was machst du denn hier draußen so allein?« Besorgt ging sie einen Schritt auf ihn zu.
»Was geht Sie das an?« Er sah sie kritisch an und wich einen Schritt zurück.
»Du brauchst doch keine Angst vor mir zu haben.« Sie lächelte warm.
»Wieso sollte ich Angst haben?« Er lächelte sie frech an, während sein Inneres ihn anflehte zu rennen.
»Hast du dich verlaufen?«
»Nein, ich bin gerade auf dem Weg nach Hause. Eden liegt in dieser Richtung, oder?« Er zeigte in die Richtung, in die er unterwegs war.
»Aber das ist die falsche Richtung und hier draußen ist es gefährlich.«, antwortete sie, ohne den Augenkontakt zu brechen, während sie immer näher kam.
»Ich komm schon klar.« Er seufzte.
Irgendwo in der Nähe knackte ein Ast.
»Können Sie mir sagen, in welche Richtung Eden liegt?« Fragte er schnell.
»Aber natürlich.« Sie nahm ihr Tablet raus und öffnete die Karte. »Wir sind da und Eden ist genau…« Als sie aufsah, war Charles verschwunden. »Hier…«
Ihr Lächeln verschwand und sie steckte das Tablet weg.
»Du solltest auf mich hören, Kleiner. Hier draußen ist es gefährlich.«
Charles drückte sich gegen den Baum und lauschte ihren Schritten. Sein Herz raste.
»Hast du ihn gefunden?« Eine zweite Person kam dazu.
»Er ist hier irgendwo.«
»Ich hatte ihn fast.«
»Er ist eben geschickter als wir dachten.«
Charles wagte es nicht, sich zu bewegen, in der Furcht, dass sie ihn bei seiner Flucht erwischen könnten. Die Zwei fingen an, hinter jedem Baum in der Nähe zu schauen. Früher oder später würden sie ihn finden. Charles atmete tief ein und joggte zu einem weiter entfernten Baum. Gerade als er sich hinter den Baum drückte, riss ein Schuss direkt neben seinem Kopf die Rinde vom Baum. Vor Schreck setzte sein Herz einen Schlag aus.
»Da bist du ja« Sagte die Frau und kam auf den Baum zu. Panisch sah Charles sich um, da kam ihm eine Idee. Er kniete sich auf den Boden und kratzte Erde zusammen.
»Gut, ihr habt mich. Ich geb‘ auf. Bitte schießt nicht auf mich.«
»Was hast du gesehen, Kleiner?«
»Ich habe nichts gesehen.«
»Wir wissen doch, dass das gelogen ist, Charles.«, sagte der Mann.
Verwirrt stand Charles auf, doch für Überlegen hatte er gerade keine Zeit. Als die Zwei hinter dem Baum hervor kamen, warf er den Beiden jeweils eine Ladung Erde ins Gesicht. Blitzschnell drehte er sich um und rannte davon. Hinter sich hörte er das wütende Kreischen der Frau. Er rannte so schnell wie er konnte. Einer der Beiden nahm die Verfolgung auf. Charles lief Schlangenlinien zwischen den Bäumen in der Hoffnung, es würde ihm Feuerschutz geben, Doch diese Hoffnung wurde zerstört, als sich eine Kugel in seinen Rücken bohrte. Charles schrie vor Schmerz auf, stolperte und ging zu Boden. Adrenalin schoss durch seine Adern. Er rappelte sich auf und wollte weiter rennen, als ein weiterer Schuss sein Schienbein zerschmetterte. Schreiend ging er erneut zu Boden. Unkontrollierbar liefen Tränen sein Gesicht herunter. Panisch versuchte er erneut aufzustehen, doch der Schmerz war unaushaltbar. Wimmernd kniete er am Boden.
»Doch nicht mehr so überlegen, was? Du hättest lieber kooperieren sollen.« Sie presste ihre Pistole in Charles Wunde, wodurch er wieder vor Schmerz aufschrie. »Du solltest wirklich mehr Respekt haben, Kleiner.«
»Bitte lass mich leben… ich will nicht sterben…« Er spürte, wie das Blut seinen Rücken hinunter lief.
Die Frau lachte amüsiert. »Das hättest du dir vielleicht vorher überlegen sollen.«
»Es tut mir leid, ich wollte das nicht… ich hätte da nicht runtergehen sollen. Ich werde es auch keinem erzählen.« Er hustete Blut aus.
»Na geht doch.« Sie grinste amüsiert. Ihr Teampartner stand nur stumm daneben und sah zu. Charles zitterte am ganzen Körper. Langsam füllte sich seine Lunge mit Blut, das er verzweifelt versuchte aus zu husten, doch es war zu viel und er bekam kaum noch Luft. Seine Kräfte begannen zu schwinden. Er konnte sich kaum aufrecht halten. »Du könntest einem fast leid tun… Aber nur fast.« Sie grinste amüsiert. Charles kippte zur Seite, er hatte kaum noch Kraft, um sich zu bewegen. Er atmete schwer und hustete mehr Blut aus. Seine Sicht verschwamm langsam aber sicher. Er murmelte unverständliche Bitten, bevor alles schwarz wurde.
»Ah, du bist endlich wach.« Stefano arbeitete gerade an einem Foto.
»Wie bin ich hier hergekommen?«
»Ich habe mir Sorgen gemacht, als du mir nicht geantwortet hast und dann bin ich dich eben suchen gegangen.«
Charles sah ihn ungläubig an.
»Nächstes Mal solltest du lieber kein Nickerchen im Wald halten.«
»Nickerchen?« Charles stellte sich neben Stefano, der ein Bild von einer Blume knipste.
»Ja, du warst eingeschlafen.«
»Was ist mit meinem Bein und meinem Rücken passiert?«
»Was sollte damit sein?« Verwirrt sah er Charles an.
»Na ja, da waren so zwei Verrückte im Wald, die auf mich geschossen haben.«
»Das hast du sicher nur geträumt.« Er streichelte Charles Kopf.
Charles stieß die Hand weg. »Ich hab mir das nicht eingebildet!«
Stefano seufzte. »Und warum hast du dann keine Wunden?«
»… Das weiß ich auch nicht.«
»Iss lieber erstmal was.« Er überprüfte das Foto.
»Aber ich weiß, dass es echt war. Diese Schmerzen… Die kann ich mir nicht eingebildet haben…« Seine Gedanken kreisten verloren.
Besorgt sah Stefano zu ihm herüber.
»Mach dir nicht so viele Gedanken darüber. Träume können dir nichts tun.«
»Ich sag es dir doch, das war kein Traum. Warum glaubst du mir nicht?« Charles sah ihn verzweifelt an.
»Hast du irgendwelche Beweise dafür, dass es real war?« Er schnipste gegen die Vase, die er fotografiert hatte, sie bewegte sich keinen Millimeter.
»Bist du jetzt etwa Polizist oder was soll das? Beweise? Vertraust du mir etwa nicht?!« Er stellte sich zwischen Stefano und die Vase.
»Doch schon, aber das klingt ziemlich absurd. Ich meine du hast keine Wunden und willst mir erzählen, dass du angeschossen wurdest.« Er ging die Fotos auf seiner Kamera durch und löschte einige.
»Aber es ist so passiert. Wenn ich es dir doch sage.«
»Versuch es einfach zu vergessen, das hier ist schließlich die sicherste Stadt und ich werde nicht zulassen, dass dir etwas passiert.« Er stellte die Kamera auf den Tisch.
»Aber wenn du nicht da bist…« Charles hielt sich den Kopf.
»Was ist aus ich komm schon klar geworden?«, neckte er Charles.
»Na ja, ich komm eben nicht gegen alles an… und du wirst auch nicht immer da sein.«
Stefano sah ihn besorgt an, da kam ihm eine Idee und er kramte etwas aus seiner Jackentasche.
»Hier, damit fühlst du dich bestimmt sicherer. Es hat mir gute Dienste geleistet.«
Er gab Charles ein schwarz glänzendes Campingmesser, das an den Seiten mit schwungvollen Gravuren dekoriert war. Vorsichtig nahm er den ledernen Griff. Seine Augen glänzten vor Begeisterung.
»Es wird dich beschützen, auch wenn ich nicht mehr bei dir bin und es wird dich an mich erinnern.«
Charles umarmte Stefano. »Vielen vielen Dank«
Stefano lächelte. »Verlier es bloß nicht.«
»Werde ich nicht, ich werde gut darauf aufpassen.«
»Genau das will ich hören.« Er streichelte Charles Kopf. »Jetzt solltest du vielleicht etwas essen, du musst hungrig sein. In der Küche sind noch Nudeln für dich. Leider muss ich aber los. Die Stadt hat mir ein Model zugeteilt, mit dem ich mich für ein Fotoshoot treffe.«
»Das ging aber schnell.«
»Das hat mich auch überrascht, aber Eden hat vermutlich noch mehr Überraschungen auf Lager, als man meint.« Er stupste gegen die Vase, die er fotografiert hatte, wodurch sie wackelte und fast umfiel. »Dann bis später.«
Lächelnd verließ er das Haus.
»Bis später.« Er winkte ihm nach, während er sein Messer fest umklammerte.