2. Eden

Als Charles aufwachte, fand er sich auf einer Wiese wieder, die sich in alle Himmelsrichtungen erstreckte. Noch etwas verpeilte, streckte er sich und setzte sich auf. Es war still, nur der Wind rauschte durch das Gras. »Hallo?«, fragte er verwirrt in die Stille und richtete sich auf. »Stefano?« Verloren wanderte er durch die Wiese. »Ist jemand hier?!« Verwirrt schaute er in die schier endlose Weite der Wiese.
Auf einmal wurde die Stille von einem Lachen durchbrochen. Für einen Moment stoppte sein Herz. In der nächsten Sekunde wandte er sich um. Ein kleines Mädchen stand ein paar Meter entfernt von ihm und lächelte ihn unschuldig an. Charles stand wie versteinert da und sah sie ungläubig an. Sie grinste und rannte davon. »Fang mich, wenn du kannst!« Charles riss die Augen weit auf und versuchte panisch ihren Arm zu ergreifen, doch er war zu langsam. »Nein! Warte!« Sein Herz raste mit Adrenalin. Er rannte so schnell er konnte, doch sie war ihm immer ein paar Schritte voraus. »Bleib stehen! Bitte… Bleib stehen!« Charles klang verzweifelt, doch das Mädchen lief lachend weiter und Charles hinterher. Sie rannte so leichtfertig wie über Wolken. Charles konnte kaum mithalten und zudem ging ihm langsam die Puste aus. »Melody… Bitte… Warte!« Er atmete schwer und fing an zu stolpern. Sie blieb stehen und lachte Charles an. »Du bist immer so langsam, Bruder« Grinste Melody amüsiert. Charles versuchte wieder zu Atem zu kommen, doch aus dem Nichts hörte Charles quietschende Reifen. Ohne Nachzudenken rannte er mit seiner letzten Energie auf Melody zu, die bewegungslos in die Richtung des Geräusches starrte. Charles sah aus dem Augenwinkel, wie ein grelles Licht rasend schnell näher kam. Als letzter Ausweg sprang er gegen sie, um sie aus dem Weg zu stoßen. Schnell verschluckte das Licht alles um sich herum. Das Einzige, was Charles hörte, der verängstigte Schrei des Mädchens, der schnell verstummte. Das brennende Licht zwang Charles dazu, seine Augen zu schließen.
Als das Licht nachließ, öffnete er vorsichtig seine Augen. Vor seinem Gesicht sah er statt seiner Schwester, dass schmerzentstellte blasse Gesicht von Emily. Charles entwich ein erschrockenes Quietschen, dass aber schnell zum Schweigen gebracht wurde, als jemand ihn am Kragen packte und auf die Füße zog. Charles schnappte zappelnd nach Luft. Die Person drehte ihn um. Charles war wie versteinert. »…V..V…Vater…« stotterte Charles ängstlich, doch als Antwort bekam er nur eine Backpfeife die ihn zurück in die Realität brachte. Charles stolperte zurück und wagte es nicht etwas zu sagen. Stattdessen starrte er Löcher in den Boden, damit er seine Gedanken ordnen konnte.
»Es ist alles deine Schuld! Du bist eine einzige Enttäuschung!« Er griff Charles an seiner Jacke und rammte ihn gegen einen Baum.
»Lass mich los!!!« Charles versuchte, sich loszureißen, doch ohne Erfolg.
»Eine Enttäuschung für unsere ganze Familie!« Er packte Charles Hals und würgte ihn. Verzweifelt rammte Charles sein Knie in den Magen seines Vaters, woraufhin dieser ihn zu Boden warf. Charles hustete und schnappte nach Luft. »Lass uns das zu Ende bringen.« Langsam zog er eine Waffe und zielte auf Charles, welcher sich schnell aufrappelte. »Du musst das nicht tun.« Charles Blick war auf die Mündung der Pistole fokussiert. »Oh, ich will. Ich habe so lange darauf gewartet.« Mit diesen Worten drückte er ab. Charles war wie versteinert. Er sah die Kugel wie in Slow Motion auf sich zu rasen. Kurz bevor die Kugel seinen Kopf traf, schreckte er aus seinem Traum auf. Sein Herz schlug wie wild und er atmete schwer. Panisch versuchte er sich zu beruhigen, doch er konnte nicht aufhören zu zittern. Ohne das er es bemerkte, liefen Tränen seine Wangen hinunter. Vollkommen überfordert kauerte er sich auf seinem Bett zusammen und schluchzte leise.

Eine Weile später klopfte jemand an Charles’ Tür. Schnell rappelte er sich auf und wischte sich mit dem Ärmel seiner Jacke die Tränen vom Gesicht. Vorsichtig öffnete er die Tür einen Spalt. »Die Vorbereitungen sind abgeschlossen. Sie können sich in einer halben Stunde in den Bus begeben.«
»Bus? Ich weiß nichts von einem Bus.«
»Den Bus nach Eden.«
»Aber ich…«
»Wir sehen Sie dann in einer halben Stunde.«
»Was? Aber…«
Verwirrt schloss Charles die Tür, als er sich wieder dem Zimmer zuwandte, sah er den Tisch, auf dem er seine Snacks abgelegt hatte. Dieser war aber leer und sauber ohne einen einzigen Krümel. Auch die Vorhänge waren nicht mehr so wie letzte Nacht. Sie waren weit aufgerissen. Ein stechender Schmerz in seinem Kopf ließ Charles zusammenzucken.
»Urgh, ich muss Stefano finden.« murmelte Charles und ging aus dem Zimmer. Der Schmerz ließ langsam wieder nach und wurde durch Schwindel ersetzt. Im Gang waren nur einzelne Personen, die aufgeregt mit einer redeten. »Besser als hier ganz allein herumzugeistern.« murmelte er und drückte den Knopf zum Fahrstuhl.
Überraschenderweise waren schon Menschen im Fahrstuhl, als dieser sich öffnete. Da er nicht wirklich eine andere Wahl hatte, stieg er ein und drückte sich gegen die Wand, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Nach ein paar tiefen Atemzügen erholte sich Charles schnell wieder. Als die Türen sich öffneten, überrollte ihn das laute Brummen der Menschenmasse, die sich durch den Gang schob. Charles wurde aus dem Fahrstuhl geschubst und stolperte in die Menge. Es war warm und stickig. Überwältigt von der Situation stolperte er mit der Strömung in Richtung Ausgang. Die Versuche nach seinem Onkel zu rufen, gingen in der Masse unter. Verloren schob er sich immer weiter an den Rand der Menge. Außerhalb konnte er endlich wieder zu Atem kommen. Hustend lehnte er sich gegen die Wand. Seine Augen wanderten durch die Menschenmasse auf der Suche nach Stefano, doch dieser war nirgends zu sehen. »Kann ich dir helfen?« Charles sah überrascht auf. Neben ihm stand ein Mann von der Sicherheit. »Ich suche meinen Onkel Stefano. Stefano Valentini.« Hoffnungsvoll wartete er auf eine Antwort, während der Mann auf seinem Tablet etwas tippte. Da kam Charles eine Idee. Er zog sein Handy aus der Jackentasche und schrieb Stefano eine Nachricht, doch sie kam nicht durch. Er hat kein Netz.
»Er ist schon im Bus. Dort solltest du auch hin.«
»Wie soll ich denn den richtigen finden in diesem Chaos?«
»Mach dir darüber keine Sorgen. Wie war dein Name nochmal?«
»Charles Valentini.«
»Folge mir.« Er lief zielstrebig in die Menge. Charles wollte etwas erwidern, doch folgte schnell, um ihn nicht zu verlieren. Es war aber nicht so leicht und so verschwomm alles in der Menge und Charles stand auf einmal wieder alleine da. Verzweifelt drehte er sich im Kreis, bis auf einmal jemand seinen Arm griff und ihn wegzog. Unsicher und hilflos folgte er dem Sicherheitsmann wieder. Ohne Charles nur ein Wort zu würdigen, schob er Charles in den Eingang eines Busses. Verwirrt sah Charles ihm hinterher, wie er ohne sich umzudrehen wieder in der Menge verschwand. Schnell sprang Charles in den Bus und suchte nach Stefano. Fast alle Plätze waren besetzt die meisten von ihnen waren wieder eingeschlafen. Auch Stefano lehnte sich schlafen gegen ein Busfenster.
»Da bist du ja!« Überglücklich sprang er auf den Platz neben ihm. Beruhigt beobachtete er, wie sich Stefanos Brustkorb hebte und senkte. Glücklich lehnte er sich an Stefanos Schulter und schloss seine Augen.

Eine gefühlte Ewigkeit später wachte Charles neben Stefano auf, der sich beunruhigt umsah.
»Wo sind wir?«
»Hm?« Noch etwas müde sah Charles zu ihm auf und murmelte. »Wir wollten doch nach Eden, oder?«
»Aber doch noch nicht jetzt…«
»Was meinst du?« Charles rieb sich die Augen, während er sich langsam aufsetzte. Stefano antwortete nicht, stattdessen beobachtete er still, wie die Menschen anfingen den Bus zu verlassen. Charles saß angespannt neben ihm und folgte seinen Blicken. Stefano sah zu ihm herüber und räusperte sich.
»Vielleicht sollten wir uns das Ganze mal ansehen. Schließlich sind wir schon hier.«
»Ich bin mir sicher, dass es dir hier gefallen wird.« Charles lächelte nervös.
»Mal sehen, aber ich muss die hier mal was fragen.« Er stand auf und drängte so Charles dazu, auch aufzustehen.
»Was denn?« Verwirrt sah Charles Stefano nach, der mit schnellen Schritten den Bus verließ.
»Warte auf mich!« Er sprang auf und folgte ihm.
Draußen fanden er in einer ihm vollkommen unbekannten Stadt wieder. Die Straßen entlang reihten sich Häuser die fast gleich aussahen, obwohl jedes wenn auch nur kleine Unterschiede hat. Zwischen den Häusern und der Straße wuchsen Blumen und Bäume. Seine Augen glänzten vor Freude. Es war sehr ruhig, die Vögel zwitscherten in der Ferne und der Wind rauschte durch die Stadt. Charles nahm einen langen Atemzug der frischen Luft. Doch seine Idylle wurde von Stefano unterbrochen, der etwas weiter mit einem jungen Mann in schwarzer Uniform diskutierte. Charles fuhr sich nervös mit der Hand durch die Haare und entschied sie lieber nicht zu stören und ging stattdessen die Straße entlang. Einzelne Menschen liefen auf der Suche nach ihrem Haus an ihm vorbei. Einige von ihnen wurden von Leuten in schwarzer Uniform begleitet, die dem bei Stefano ähnelten.
》Willkommen in Eden.《 Einer der Männer in schwarz steuerte auf Charles zu, der sich verwirrt umsah, in der Hoffnung, dass er nicht gemeint war.
》Ich meinte dich schon, Charles.《
》Woher…?《
》Ich bin William.《 Lächelnd reichte er Charles einen Bewohnerausweis für Eden.
》Danke.《
》Hättest du Interesse an einer Stadtführung?《
》Auja!《
》Dann komm.《 Lächelnd lief William voraus. 》Eines der Wohnviertel hast du schon gesehen. Später werde ich dir auch noch das Haus für dich und deinen Onkel zeigen.《 Charles folgte ihm lächelnd.
》Hier in Eden kannst du dich immer an jemanden von Osiris wenden, falls du Probleme oder Fragen hast. Du kannst uns daran erkennen, das wir komplett schwarz tragen mit einem weißen Auge vorne und hinten.《
Stolz zeigte er die Rückseite seiner Jacke, auf der sich ein durchgestrichenes Auge befand, sowie auf der Mütze.
》Eden wurde erst vor zwei Jahren fertiggestellt.« Er lief mit leichten Schritten die Straße hinuter. »Eden soll die sicherste Stadt der Welt werden. Um es so zu behalten, kannst du Osiris benachrichtigen, falls dich etwas beunruhigt oder dir etwas verdächtig vorkommt. Du kannst aber auch mich direkt ansprechen. Ich werde mich um die Umgebung des Rathauses, sowie Kirche kümmern. Nun zurück zur Stadtführung. Die Straße runter kannst du schon das Rathaus sehen. Die Straße dahinter führt zur Kirche. Nach links ist eine Einkaufsstraße mit vielen verschiedenen Läden zum erkunden. Rechts findest du verschiedenste Freizeitaktivitäten, wie ein Kino, Theater, Freibad, Kletterhalle und noch vieles mehr.《 Er reichte Charles eine Karte der Stadt. »Hier sind alle Freizeitaktivitäten, sowie Läden gekennzeichnet, damit du nicht den Überblick verlierst.«
》Danke, William. Ich hätte da aber noch eine Frage.《
》Klar, was gibt es den?《
》Es gibt zwar Straßen, aber ich habe noch gar keine Autos gesehen…《
》Ach ja natürlich. Das liegt daran, dass es hier auch keine Autos gibt. Wozu auch? Alles ist zu Fuß erreichbar und bis zur Erweiterung gibt es auch kaum öffentliche Verkehrsmittel. Dadurch konnten wir mehr Platz einsparen und ihn stattdessen mit mehr Natur füllen. Ist das nicht wundervoll?《
》Absolut ich liebe es, nichts ist schöner als die Natur.《 Charles lächelte verträumt.
》Ist das nicht dein Onkel?《
Charles wurde aus seinen Gedanken gerissen und sah sich verwirrt um.
》Hier bist du. Hast du dir die Stadt schon ohne mich angesehen?《 Stefano und ein weiteres Mitglied von Osiris kamen auf sie zu.
》Ja, William hat mich etwas herumgeführt. Ich wollte euch nicht stören.《
》Ach so ja, genau.《 Er warf einen flüchtigen Blick auf seinen Verfolger.
》Er hier hat mich zu dir geführt, sonst hätte ich dich vermutlich nicht so schnell gefunden.《
Charles stach sofort etwas ins Auge, Geronimos weiße Augen waren nicht durchgestrichen wie die von William, doch bevor er danach fragen konnte riss William ihn aus seinen Gedanken.
》Das ist mein Teampartner Geronimo, er ist ein paar Ränge über mir.《 Geronimo schien ziemlich schlecht gelaunt zu sein, denn er tippte nur stumm auf seinem Tablet, ohne aufzusehen.
William beobachtete Geronimo, bis dieser ihm einem bösen Blick zu warf, der William zusammenzucken ließ.
》Jedenfalls könnt ihr hier mit euer Leben genau da weitermachen, wo ihr aufgehört hattet, nur das ihr in Eden sicherer seid.《 Ergänzte William schnell.
》Also muss ich wieder zur Schule.《 Seufzte Charles genervt.
》Genau…《 Mit dieser Reaktion schien William nicht gerechnet zu haben.
Stefano räusperte sich. 》Wir sollten vielleicht langsam zu unserem Haus, schließlich wissen wir jetzt schon alles was wir brauchen. Habe ich Recht, Charles?《
》Ich weiß noch nicht wo die Schule ist, was vielleicht noch gut zu wissen wäre.《
》Das ist ganz einfach, nur die Straße runter und dann wirst du sie schon sehen.《 William lächelte stolz und zeigte die Hauptstraße entlang.
》Wundervoll. Danke für eure Hilfe, aber wir müssen dann jetzt los, schließlich sollten wir uns mit unserem Haus vertraut machen. Euch noch einen schönen Tag.《 Stefano schaute von William zu Geronimo und schnell wieder zurück.
》Danke für deine Stadtführung, William. Es war schön dich kennengelernt zu haben. Vielleicht sieht man sich bald nochmal.《
》Da bin ich mir sicher, ich werde hier sein, wenn du mich suchst. Außerdem kannst du mich über die Eden-App kontaktieren. In eurem Haus werdet ihr einen Flyer mit Download Link finden.《
》Werde ich machen. Wir sehen uns, William.《 Lächelte Charles und folgte Stefano.
》Auf Wiedersehen.《 William winkte den Beiden hinterher.
Geronimo verdreht die Augen und reicht William neue Bewohnerausweise.
》Keine Zeit für Pausen, weiter geht’s.《
》Bin unterwegs.《 Fröhlich macht er sich auf den Weg nach den Nächsten.

Stefano schloss die Tür hinter ihnen, während Charles sich glücklich auf die Couch fallen ließ. Lächelnd setzte sich Stefano neben ihn.
》Also ich finde es super hier. Was meinst du?《 Charles sah Stefano erwartungsvoll an.
》Es ist nicht so schlimm wie ich erst dachte. Man könnte sich daran gewöhnen.《
》Ich glaub du wirst es hier auch schnell mögen. Aber ich wollte dich eigentlich noch was fragen.《 Er setzte sich auf.
》Klar, was denn?《
》Worüber hast du dich mir Geronimo gestritten?《
》Streiten würde ich das nicht nennen, ich wollte nur meine Kamera zurück, du weißt wie wichtig sie mir ist.《
》Schon klar und was hat er dazu gesagt?《
Stefano sah ihn etwas überrascht an. 》Ach so, ich krieg sie morgen wieder mit den anderen Sachen, die wir mitgebracht haben.《
》Dann ist ja alles gut.《 Charles lächelte und machte sich auf die Suche nach dem Flyer für die Eden-App.
》Was hälst du den von Eden bisher?《
Charles sah auf. 》Es ist perfekt.《
》Das freut mich.《 Er beobachtete Charles dabei wie er auf seinem Handy tippte. 》Ich bin drüben, falls du mich suchst.《
》Alles klar. Ach und ich werde mir gleich noch etwas im Wald umsehen.《 Charles sah zu Stefano auf.
》Gut, aber sei vorsichtig und zum Mittagessen zurück.《
》Eden ist doch der sicherste Ort, da musst du dir doch keine Sorgen machen《 Grinste Charles.
》Klar, trotzdem schadet es nicht vorsichtig zu sein. Im Wald gibt es auch Tiere, weißt du?《 Konterte er amüsiert.
》Ich bin doch immer vorsichtig.《 Lächelte Charles unschuldig.
》Ich weiß. Aber geh nicht zu weit.《
》Mach ich.《
Stefano lächelte noch immer etwas besorgt, während Charles weiterhin tippte.
Hinter sich schloss Stefano die Tür ab und seufzte. Aus seiner Manteltasche kramte er sein Handy, dass schon mit einer Nachricht auf ihn wartete. “Vergiss unseren Deal nicht.”

3. Das Haus im Wald

Einige Zeit später spazierte Charles durch den Wald am Stadtrand. Je weniger er von der Stadt sehen oder hören konnte, desto besser. Mit jedem Schritt wurde der Wald dunkler und dichter. Hier war es so still, dass man nicht einmal die Vögel mehr hörte. In all der Ruhe ließ er sich auf einem umgefallenen Baum nieder und schloss die Augen, um die Stille zu genießen. Plötzlich schossen ihm wieder die Bilder seines Vaters in den Kopf. Schnell riss er seine Augen wieder auf und sah sich paranoid um. Dabei bemerkte er ein lautes rhythmisches Klappern. Neugierig stand er auf und folgte dem Geräusch tiefer in den Wald. Alles war still, nur seine Schritte und das Klappern waren zu hören. Ein kühler Windzug fegte durch die Bäume und wirbelte ein paar Blätter auf. In der Ferne konnte Charles den Umriss von etwas Großem erkennen. Als er näher kam, sah er ein altes verlassenes Haus. Die Wände waren mit Moos und Efeu bewachsen, die Scheiben zerschlagen und die Tür hing nur noch schief an ihrem Platz. Das Klappern kam aus dem Haus. Daran gab es keinen Zweifel. Vorsichtig öffnete Charles die Tür einen Spalt breit, um sich hinein zu schleichen. Quietschend gab die Tür nach und fiel hinter ihm wieder zu. Drinnen hörte man das Klappern noch lauter, es schallte aus jeder Richtung. Hinter einer Ecke befand sich die Küche, in der noch verstaubte Töpfe, Teller und Pfannen standen. Charles stellte einen umgefallenen Stuhl wieder auf und ging vorbei ins nächste Zimmer. Es war ein voll eingerichtetes Wohnzimmer mit Teppich, Couch und einem Schrank mit unzähligen dekorativen Tassen und Tellern. Ein starker Windzug schlug eines der Fenster zu, was Charles zusammenzucken ließ. Langsam öffnete es sich wieder und schlug wieder zu. Er ging zum Fenster, schloss es vorsichtig und schob den Riegel vor. Es war wieder still. Charles spazierte weiter und kam zum Treppenhaus. An der Treppe befand sich eine große Stahltür, die viel neuer aussah als der Rest des Hauses. Eine Ecke vom Teppich hielt die Tür davon ab, sich zu schließen. Vorsichtig drückte er die Tür auf. Dahinter ging eine klinisch weiße Treppe hinunter in den Keller. Die Neugier packte ihn und langsam schlich er hinunter. Sie war kürzer als er erwartet hatte. Am Ende der Treppe war ein Gang, der so lang war, dass man sein Ende nicht sehen konnte. Alles war strahlend hell beleuchtet, doch es herrschte eine unheimliche Stille. Charles Schritte hallten von überall wieder. Alle Türen im Gang waren so weiß und glatt wie die Wände, wodurch man sie kaum sah. Nur das leuchtende „LOCKED“-Schild über jeder Tür verriet sie. In der Ferne blinkte ein grün leuchtendes Schild. Vorsichtig ging er hin und drückte die Tür auf. Ohne ein Geräusch von sich zu geben, öffnete sie sich. Aus dem Raum kam lautes Lachen. Leise ließ er die Tür hinter sich zu gleiten. Charles fand sich in einer Art Pausenraum wieder. Die rechte Wand entlang reihten sich Snackautomaten. Am Ende der Reihe riskierte Charles einen Blick um die Ecke. Dort fand er einige Tische, die wie in einer Cafeteria in Gruppen angeordnet waren. In der Mitte des Raums standen einige Männer in Osirisuniform. Sie lachten einen aus, der als Einziger in der Gruppe eine Uniform mit durchgestrichenen Augen trug. Jedes mal, wenn er versuchte aufzustehen, traten sie ihn wieder zu Boden. Drumherum saßen andere Leute in verschiedensten Osirisuniformen und sahen nur stumm zu oder konzentrierten sich auf ihr Essen. Charles lief ein Schauer den Rücken hinunter. Langsam ging er rückwärts, um nicht entdeckt zu werden. Doch er stolperte gegen jemanden. Vor Schreck zuckte er zusammen. »Was machst du denn hier? Bewohner haben hier keine Zutrittsbefugnis.«
»Ich wollte sowieso gerade gehen.«
Er schob sich am Osirismitarbeiter vorbei in Richtung des Ausgangs.
»Nein, du bleibst lieber hier.« Er versuchte Charles Arm zu greifen, doch dieser wich geschickt aus und stürmte durch die noch offene Tür hinaus auf den Gang. Überraschenderweise folgte der Osirismitarbeiter ihm nicht. Charles sah zurück und wurde langsamer, als er bemerkte, dass er nicht verfolgt wurde.
»Das war zu einfach.« Murmelte er vor sich hin, während er den Gang entlang ging.
In der Ferne hörte er das Echo einiger Osirismitarbeiter. Oben angekommen, schloss er die Tür, schnappte sich den Stuhl aus der Küche und klemmte ihn unter den Türknauf, in der Hoffnung, dass es seine Verfolger, falls es welche gab, aufhalten würde. Genau in dem Moment hörte er von der Haustür aus ein lautes Knacken, das von draußen zu kommen schien. Erschrocken starrte er auf die Tür am Ende des Hausflur an. Ohne viel nach zu denken ging er die Treppe hoch, um Distanz zwischen sich und der Tür aufzubauen. Die Stufen knarrten unter seinen Schritten, was ihn ausbremste. Er schlich in den erst besten Raum, ohne sich weiter umzusehen und schloss die Tür hinter sich. Gerade rechtzeitig, denn er konnte deutlich das Quietschen der Haustür hören. Er setzte sich mit dem Rücken gegen die Tür und lauschte auf Geräusche. Die Person im Untergeschoss war aber nicht darauf aus, leise zu sein, so laut wie sie durch das Haus stampfte.
»Glaubst du wirklich, dass jemand hier ist?« Eine weitere Person öffnete quietschend die Tür.
»Auf jeden Fall ist jemand hier und jetzt shh!« Wurde er von einer Frau angefaucht. Sie nahm den Stuhl von der Tür weg und stellte ihn an seinen ursprünglichen Platz zurück.
»Du hast Recht. Ich hab…«
»Sei still!« Flüsterte sie aggressiv.
Sie gingen in einen anderen Raum. Charles konnte sie flüstern hören, doch verstand kein Wort. Bald fiel alles in Totenstille, die nur hin und wieder durch ein quietschendes Brett durchbrochen wurde. Er sah sich in dem Raum, in dem er sich versteckt hatte um. Es war ein altes Schlafzimmer mit einem halb offenen Schrank, Nachttisch und einem alten Bett am Fenster. Vorsichtig schlich er hinüber und sah aus dem Fenster. Unten wuchsen einige Büsche rund um das Haus. Hinter sich hörte er das Knarzen der Treppe. Vorsichtig drückte er das Fenster auf, dass sich mit einem langen Quietschen öffnete und zog die Decke vom Bett. Mit Schwung warf er die Decke auf die Büsche. In der Stille konnte er unverkennbar das Nachladen einer Pistole hören. Sein Atem stockte und ohne auf ein weiteres Geräusch zu warten, sprang er aus dem Fenster und landete auf der Decke. Mit einem lauten Knacken und Rascheln brach der Busch unter seinem Gewicht zusammen. So schnell, als hätte er es schon tausende Male gemacht, rappelte er sich auf und lief in den Wald. Er hörte das Klappern und Knarzen des Hauses und dann schnelle Schritte.
Ein Knall und neben ihm schlug eine Kugel in einen Baum ein. Charles stolperte zur Seite und verlor fast das Gleichgewicht. »Scheiße…« Fauchte er zu sich selbst. Um seinen Verfolger abzuschütteln, schlug er sich durch einige Büsche, doch die Schritte kamen immer näher. Also stoppte er abrupt und versteckte sich hinter einem großen Baum. Er versuchte sein Handy aus der Jacke zu ziehen, doch seine Hände zitterten so stark, dass er es fast fallen ließ. Für einen Moment schloss er die Augen und zwang sich, langsamer zu atmen. Mit einem tiefen Atemzug öffnete er die Augen wieder und tippte eine Nachricht an Stefano. Hinter dem Baum konnte hören, wie die Schritte leise, vorsichtiger geworden waren und immer näher kamen. Auf dieser Distanz hätte er kaum Überlebenschancen, schätze Charles. Eine Kugel würde reichen und er wäre tot und ohne Ablenkung würde er nicht entkommen können. Sein Blick fiel auf sein Handy, er überprüfte seine Nachricht noch einmal und warf sein Handy so weit weg wie er konnte. Mit einem dumpfen Schlag und einigem Rascheln landete es auf dem Boden, gefolgt von einem weiteren Schuss. Charles hielt sich den Mund zu und wartete, bis sein Verfolger am Baum vorbei ging, um das Geräusch zu untersuchen. Vorsichtig schlich Charles in die entgegengesetzte Richtung zurück in Richtung des Hauses. Es war still, er war die Beiden fürs erste los. Erleichtert seufzte er und ging in die Richtung, die zurück nach Eden führen sollte. Der Weg zog sich aber immer länger und schien kein Ende zu nehmen. Bäume, überall Bäume, kein Fluss, keine Häuser. So lang hatte er den Weg zum verlassenen Haus nicht in Erinnerung. Unbewusst lief er immer schneller, in der Hoffnung, bald da zu sein.
»Nicht so schnell, Kleiner.« Eine Frau in Osiris Uniform trat hinter einem Baum hervor und stellte sich ihm in den Weg.
Erschrocken stolperte Charles ein paar Schritt zurück und blieb stumm stehen.
»Was machst du denn hier draußen so allein?« Besorgt ging sie einen Schritt auf ihn zu.
»Was geht Sie das an?« Er sah sie kritisch an und wich einen Schritt zurück.
»Du brauchst doch keine Angst vor mir zu haben.« Sie lächelte warm.
»Wieso sollte ich Angst haben?« Er lächelte sie frech an, während sein Inneres ihn anflehte zu rennen.
»Hast du dich verlaufen?«
»Nein, ich bin gerade auf dem Weg nach Hause. Eden liegt in dieser Richtung, oder?« Er zeigte in die Richtung, in die er unterwegs war.
»Aber das ist die falsche Richtung und hier draußen ist es gefährlich.«, antwortete sie, ohne den Augenkontakt zu brechen, während sie immer näher kam.
»Ich komm schon klar.« Er seufzte.
Irgendwo in der Nähe knackte ein Ast.
»Können Sie mir sagen, in welche Richtung Eden liegt?« Fragte er schnell.
»Aber natürlich.« Sie nahm ihr Tablet raus und öffnete die Karte. »Wir sind da und Eden ist genau…« Als sie aufsah, war Charles verschwunden. »Hier…«
Ihr Lächeln verschwand und sie steckte das Tablet weg.
»Du solltest auf mich hören, Kleiner. Hier draußen ist es gefährlich.«
Charles drückte sich gegen den Baum und lauschte ihren Schritten. Sein Herz raste.
»Hast du ihn gefunden?« Eine zweite Person kam dazu.
»Er ist hier irgendwo.«
»Ich hatte ihn fast.«
»Er ist eben geschickter als wir dachten.«
Charles wagte es nicht, sich zu bewegen, in der Furcht, dass sie ihn bei seiner Flucht erwischen könnten. Die Zwei fingen an, hinter jedem Baum in der Nähe zu schauen. Früher oder später würden sie ihn finden. Charles atmete tief ein und joggte zu einem weiter entfernten Baum. Gerade als er sich hinter den Baum drückte, riss ein Schuss direkt neben seinem Kopf die Rinde vom Baum. Vor Schreck setzte sein Herz einen Schlag aus.
»Da bist du ja« Sagte die Frau und kam auf den Baum zu. Panisch sah Charles sich um, da kam ihm eine Idee. Er kniete sich auf den Boden und kratzte Erde zusammen.
»Gut, ihr habt mich. Ich geb‘ auf. Bitte schießt nicht auf mich.«
»Was hast du gesehen, Kleiner?«
»Ich habe nichts gesehen.«
»Wir wissen doch, dass das gelogen ist, Charles.«, sagte der Mann.
Verwirrt stand Charles auf, doch für Überlegen hatte er gerade keine Zeit. Als die Zwei hinter dem Baum hervor kamen, warf er den Beiden jeweils eine Ladung Erde ins Gesicht. Blitzschnell drehte er sich um und rannte davon. Hinter sich hörte er das wütende Kreischen der Frau. Er rannte so schnell wie er konnte. Einer der Beiden nahm die Verfolgung auf. Charles lief Schlangenlinien zwischen den Bäumen in der Hoffnung, es würde ihm Feuerschutz geben, Doch diese Hoffnung wurde zerstört, als sich eine Kugel in seinen Rücken bohrte. Charles schrie vor Schmerz auf, stolperte und ging zu Boden. Adrenalin schoss durch seine Adern. Er rappelte sich auf und wollte weiter rennen, als ein weiterer Schuss sein Schienbein zerschmetterte. Schreiend ging er erneut zu Boden. Unkontrollierbar liefen Tränen sein Gesicht herunter. Panisch versuchte er erneut aufzustehen, doch der Schmerz war unaushaltbar. Wimmernd kniete er am Boden.
»Doch nicht mehr so überlegen, was? Du hättest lieber kooperieren sollen.« Sie presste ihre Pistole in Charles Wunde, wodurch er wieder vor Schmerz aufschrie. »Du solltest wirklich mehr Respekt haben, Kleiner.«
»Bitte lass mich leben… ich will nicht sterben…« Er spürte, wie das Blut seinen Rücken hinunter lief.
Die Frau lachte amüsiert. »Das hättest du dir vielleicht vorher überlegen sollen.«
»Es tut mir leid, ich wollte das nicht… ich hätte da nicht runtergehen sollen. Ich werde es auch keinem erzählen.« Er hustete Blut aus.
»Na geht doch.« Sie grinste amüsiert. Ihr Teampartner stand nur stumm daneben und sah zu. Charles zitterte am ganzen Körper. Langsam füllte sich seine Lunge mit Blut, das er verzweifelt versuchte aus zu husten, doch es war zu viel und er bekam kaum noch Luft. Seine Kräfte begannen zu schwinden. Er konnte sich kaum aufrecht halten. »Du könntest einem fast leid tun… Aber nur fast.« Sie grinste amüsiert. Charles kippte zur Seite, er hatte kaum noch Kraft, um sich zu bewegen. Er atmete schwer und hustete mehr Blut aus. Seine Sicht verschwamm langsam aber sicher. Er murmelte unverständliche Bitten, bevor alles schwarz wurde.

Charles wachte in seinem Bett in Eden auf. Etwas benommen sah er sich um. Vorsichtig setzte er sich auf und tastete nach der Schusswunde an seinem Rücken. Sie war verschwunden. Vorsichtig zog er seine Decke zur Seite. Auch sein Bein war wieder in Ordnung. Es war, als wäre nie etwas gewesen. Ungläubig tastete er sein Bein ab, doch alles schien normal. Vorsichtig belastete er sein Bein, langsam ging er in die Küche. Alles fühlte sich so surreal an.
»Ah, du bist endlich wach.« Stefano arbeitete gerade an einem Foto.
»Wie bin ich hier hergekommen?«
»Ich habe mir Sorgen gemacht, als du mir nicht geantwortet hast und dann bin ich dich eben suchen gegangen.«
Charles sah ihn ungläubig an.
»Nächstes Mal solltest du lieber kein Nickerchen im Wald halten.«
»Nickerchen?« Charles stellte sich neben Stefano, der ein Bild von einer Blume knipste.
»Ja, du warst eingeschlafen.«
»Was ist mit meinem Bein und meinem Rücken passiert?«
»Was sollte damit sein?« Verwirrt sah er Charles an.
»Na ja, da waren so zwei Verrückte im Wald, die auf mich geschossen haben.«
»Das hast du sicher nur geträumt.« Er streichelte Charles Kopf.
Charles stieß die Hand weg. »Ich hab mir das nicht eingebildet!«
Stefano seufzte. »Und warum hast du dann keine Wunden?«
»… Das weiß ich auch nicht.«
»Iss lieber erstmal was.« Er überprüfte das Foto.
»Aber ich weiß, dass es echt war. Diese Schmerzen… Die kann ich mir nicht eingebildet haben…« Seine Gedanken kreisten verloren.
Besorgt sah Stefano zu ihm herüber.
»Mach dir nicht so viele Gedanken darüber. Träume können dir nichts tun.«
»Ich sag es dir doch, das war kein Traum. Warum glaubst du mir nicht?« Charles sah ihn verzweifelt an.
»Hast du irgendwelche Beweise dafür, dass es real war?« Er schnipste gegen die Vase, die er fotografiert hatte, sie bewegte sich keinen Millimeter.
»Bist du jetzt etwa Polizist oder was soll das? Beweise? Vertraust du mir etwa nicht?!« Er stellte sich zwischen Stefano und die Vase.
»Doch schon, aber das klingt ziemlich absurd. Ich meine du hast keine Wunden und willst mir erzählen, dass du angeschossen wurdest.« Er ging die Fotos auf seiner Kamera durch und löschte einige.
»Aber es ist so passiert. Wenn ich es dir doch sage.«
»Versuch es einfach zu vergessen, das hier ist schließlich die sicherste Stadt und ich werde nicht zulassen, dass dir etwas passiert.« Er stellte die Kamera auf den Tisch.
»Aber wenn du nicht da bist…« Charles hielt sich den Kopf.
»Was ist aus ich komm schon klar geworden?«, neckte er Charles.
»Na ja, ich komm eben nicht gegen alles an… und du wirst auch nicht immer da sein.«
Stefano sah ihn besorgt an, da kam ihm eine Idee und er kramte etwas aus seiner Jackentasche.
»Hier, damit fühlst du dich bestimmt sicherer. Es hat mir gute Dienste geleistet.«
Er gab Charles ein schwarz glänzendes Campingmesser, das an den Seiten mit schwungvollen Gravuren dekoriert war. Vorsichtig nahm er den ledernen Griff. Seine Augen glänzten vor Begeisterung.
»Es wird dich beschützen, auch wenn ich nicht mehr bei dir bin und es wird dich an mich erinnern.«
Charles umarmte Stefano. »Vielen vielen Dank«
Stefano lächelte. »Verlier es bloß nicht.«
»Werde ich nicht, ich werde gut darauf aufpassen.«
»Genau das will ich hören.« Er streichelte Charles Kopf. »Jetzt solltest du vielleicht etwas essen, du musst hungrig sein. In der Küche sind noch Nudeln für dich. Leider muss ich aber los. Die Stadt hat mir ein Model zugeteilt, mit dem ich mich für ein Fotoshoot treffe.«
»Das ging aber schnell.«
»Das hat mich auch überrascht, aber Eden hat vermutlich noch mehr Überraschungen auf Lager, als man meint.« Er stupste gegen die Vase, die er fotografiert hatte, wodurch sie wackelte und fast umfiel. »Dann bis später.«
Lächelnd verließ er das Haus.
»Bis später.« Er winkte ihm nach, während er sein Messer fest umklammerte.

4. Einfach ein Spaziergang

Nach dem Essen entschied er sich, an die frische Luft zu gehen. Draußen war das perfekte Wetter, strahlend heller Sonnenschein und zwitschernde Vögel. Die frische Luft tat ihm gut und bald schon waren die Erinnerungen an den Wald verdrängt.
»Charles! Du hier?«
Charles zuckte unweigerlich zusammen, als er die ihm nur allzu bekannte Stimme hörte.
»Hätte nicht gedacht, dass ich dich hier treffen würde.«
Charles drehte sich um und sah den etwas kleineren, unsportlichen Samuel auf sich zurennen. Ohne Worte wartete er auf ihn. Keuchend stützte er sich an Charles ab.
»Endlich jemand, den ich kenne, obwohl ich dich am wenigsten hier erwartet hätte.«
Charles rollte die Augen und schob Samuels Arm von sich weg.
»Hey! Ich meine, das ist doch die sicherste Stadt, oder nicht?«
Charles wand sich ab und ging weiter.
»Jetzt warte doch mal, ich meinte das doch nicht böse. Wir sind doch beste Freunde, richtig?« Mit schnellen Schritten versuchte er, mit Charles mitzuhalten.
»Ich weiß nicht, wovon du redest.« Er vermied den Augenkontakt.
»Hey hey, schließlich hab ich dir ein Date mit dieser Schnecke aus der Klasse über uns klargemacht.«
»Habe ich dich danach gefragt?«
»Nicht direkt, aber deine Blicke sagen alles.«
Charles blieb abrupt stehen und sah ihm direkt in die Augen.
»Und was sagt dir dieser Blick?«
»Das… dass du einen echt miesen Tag hast?«
»Exakt.« Charles seufzte.
»Haben sie Emilie immer noch nicht gefunden?«
»Doch, sie ist tot.« Er rieb sich am Arm.
»Hast du sie umgebracht?« Samuel suchte den Augenkontakt zu Charles.
»Was zur Hölle, Samuel?!« Seine Augen brannten vor Hass.
»Was denn? Ist doch wohl eine berechtigte Frage?« Er zuckte mit den Schultern.
»Samuel, ich warne dich!« Keiner von Beiden brach den Augenkontakt.
»Anthony wird sich nicht von selbst von der Brücke gestürzt.«
»Wie oft soll ich es dir noch sagen? Ich …«
»Oder Jason, der hat sich auch sicher selbst erschossen.« Unterbrach ihn Samuel.
»Mit Anthony hatte ich nichts zu tun und das weißt du! Und Jason war fanatisch!
Genau wie du!« Charles sah zu Boden, in seinem Inneren hörte er Anthonys
Schreie und Jasons wilde Gerede. Sie wurden immer lauter, als würden sie sich gegenseitig übertönen wollten, bis plötzlich wieder Ruhe einkehrte. Erst jetzt merkte Charles, dass er schwer atmete. Er blinzelte ein paar Mal, um sich wieder zu orientieren und atmete tief ein.
»Manchmal bist du echt seltsam.« Samuel sah ihn irritiert an.
»Ich weiß, aber bitte behalt das alles für dich.« Charles fuhr sich durch die Haare und sah weg.
»Warum denn? Irgendwann kriegt das doch eh jeder mit.«
»Bitte, ich will wenigstens versuchen, ein normales Leben zu führen…«
»Als ob du dazu in der Lage wärst.«
»Man muss es versuchen. Wenn ich scheitere, ist es so, aber ich muss es versuchen.«
»Meinetwegen ich werde versuchen, mich zurückzuhalten.«
»Danke, Samuel..«
Charles wurde hellhörig, als er zwei Stimmen hörte, die sich unterhielten und sah sich irritiert um.
»Was ist los?« Samuel blieb neben ihm stehen.
William und Geronimo kamen um die Ecke.
»Hallo, Charles.« William lächelte überglücklich und ging auf ihn zu.
Charles hörte kaum, was William sagte, es war gedämpft. Das Einzige, was er sah, war die Osirisuniform. Sein Herz begann zu rasen und er wich zurück. William blieb verwirrt stehen.
»Ist alles ok?«
Charles fuhr sich durch die Haare und zwang die Bilder vom Wald aus seinem Kopf.
»Ja, alles gut.« Er lächelte gezwungen.
William warf einen kurzen Blick auf Geronimo, der die Augen rollte.
»Ihr ähm… ihr habt mìch nur überrascht.« Charles vermied den Augenkontakt.
William wandte sich Samuel zu.
»Wir wurden uns noch nicht vorgestellt. Ich bin William und das ist mein Partner Geronimo. Es freut mich dich kennenzulernen.«
»Super, ich bin Samuel. Charles bester und einziger Freund.« Er grinste stolz.
Williams Augen strahlten vor Freude, während er mit Samuel redete.
Charles war geistig abwesend und starrte Geronimo an, der auf seinem Tablet tippte. Scheinbar sichtlich unzufrieden mit der Zeitverschwendung, die sein Partner betrieb.
»Geronimo, mein Bester!« Eine Frau von Osiris kam um die Ecke und steuerte direkt auf Geronimo zu. Charles erkannte sie sofort als die Frau aus dem Wald.
»Ah, Juliette, was machst du denn hier?« Als er aufsah, grinste sie ihn glücklich an.
Sie war echt. Sie… Seine Atmung wurde wieder schneller, doch er versuchte, es zu unterdrücken, um nicht wieder die Aufmerksamkeit von Samuel oder William auf sich zu ziehen.
»Du hast dir aber ganz schön Zeit gelassen.« Geronimo sah kurz zu ihr rüber, während er tippte. Juliette grinste amüsiert. Sanft legte sie eine Hand unter sein Kinn und hob seinen Kopf an, damit er sie anschaute.
»Hast du mich denn gar nicht vermisst?« Mit einem unschuldigen Blick sah sie ihn an.
»Also ich. Ich meine natürlich. Genau genommen.« Stammelte er überfordert vor sich her. Juliette grinste triumphierend und drückte ihm einen kurzen Kuss auf die Lippen. Geronimos Kopf wurde blitzschnell rot. Lächelnd ließ Juliette von ihm ab. Geronimo fuhr sich nervös durch die Haare. Erst jetzt bemerkte Juliette einen Blick, der sie zu durchbohren schien. Als sich Charles und Juliettes Blicke kreuzten, tastete Charles nach dem Messer an seinem Gürtel. Schweigend starrten sich die Beiden an, während William und Samuels Gespräch nur als Hintergrundrauschen wahrgenommen wurde. Mit einem freundlichen Lächeln ging sie auf ihn zu. Charles blieb ruhig stehen, obwohl alle seine Gedanken schrien, dass er rennen sollte. Seine linke Hand umklammerte den Messergriff. Juliette schien das nicht zu beunruhigen. Freundlich streckte sie ihm ihre Hand entgegen.
»Hallo, ich bin Juliette. Willkommen in Eden. Es freut mich dich kennenzulernen.« »Hi, ähm… ich bin Charles.« Unsicher und verwirrt, schüttelte er ihre Hand und ließ von seinem Messer ab.
»Wenn du jemals Probleme hast, kannst du dich bei mir oder Romeo melden. Wir helfen dir immer gern.« Verwirrt stoppte sie und sah sich um. »Wo bleibt der eigentlich?«
Charles wagte nicht, sich zu bewegen oder etwas zu sagen. Er fühlte sich wie ein Beutetier, das sich vor einer Raubkatze versteckte.
Juliette seufzte.
»Naja, er wird schon wieder auftauchen.«
Sie zuckte mit den Schultern.
»Weißt du? Er ist so unzuverlässig. Immer verschwindet er ohne etwas zu sagen und taucht dann wieder auf, als wäre nichts gewesen. Team heißt für mich etwas anderes, aber was weiß ich schon, hab ich Recht? Aber ich werde ihm das schon noch beibringen. Da ist er.« Sie ließ von Charles ab und steuerte direkt auf Romeo zu, der sich suchend umsah.
Charles sah zu Samuel, der William seine Lebensgeschichte zu erzählen schien.
William hört geduldig und interessiert zu.
»William, wir haben noch mehr zu tun. Komm jetzt.« Geronimo mischte sich ein, ohne Augenkontakt zu suchen. William seufzte und verdrehte die Augen.
»Hier ist doch sowieso nichts los.«
Geronimo sah auf und sein Blick kreuzte Williams.
»Ich habe doch Recht oder nicht?« William hielt den Augenkontakt aufrecht.
Geronimo sagte nichts, er schien direkt in Williams Seele zu starren.
Samuels Blick wechselte zwischen den Beiden hin und her, während Charles Juliette anstarrte.
Charles ging langsam rückwärts. Sein Herz schlug so laut, dass er Angst hatte, Samuel könnte es hören. Dieser war aber sowieso beschäftigt. Keiner von ihnen beachtete ihn. Schnell ergriff er die Chance und verschwand hinter einer Hausecke. Sie war echt. Sie war hier.
Vor seinem inneren Auge sah er ihr psychopathisches Lächeln. Ein stechender Schmerz brannte durch sein Bein und seinen Rücken. Ohne das er es merkte, atmete er schneller und sein Kopf wurde heiß. Ganz dumpf hörte er, wie sein Name gerufen wurde, doch er konnte die Stimme kaum zuordnen.
»Sie wird mir nichts tun, dass war nur ein Traum.« Murmelte Charles um sich zu beruhigen.
»Ist alles ok?« fragte ihn jemand.
Charles Atem stockte und er spürte den rasenden Herzschlag in seinem Hals.
»Charles?« wiederholte die Stimme.
Er blinzelte ein zwei Mal und sah dann vorsichtig zur Seite. Samuel stand neben ihm und sah ihn besorgt an.
Charles Atmung flachte wieder ab und er sah Samuel verwirrt an.
»Was ist los?«
»Nichts, alles gut. Ich komm schon klar.« Charles fuhr sich mit der Hand durch die Haare.
»So sah das aber nicht aus.«
Charles wollte etwas erwidern, aber ließ es lieber bleiben. Erschöpft setzte er sich auf den Boden. Samuel setzte sich neben ihn.
»Alles ist gut, die sind weg.«
»Ich weiß.« Charles sah ihn nicht an.
»Du hast doch schon einigen Polizisten ins Gesicht gelogen. Was war jetzt anders?«
»Ich würde lieber erstmal nicht drüber reden.«
»Sicher?«
»Vielleicht irgendwann anders.«
»Wenn du meinst.«



Währenddessen etwas weiter am Stadtrand…
William verschränkte die Arme und lehnte sich an eine Hauswand. Romeo stand neben ihm und beobachtete Geronimo und Juliette, die unter einem Baum standen. Sie redeten miteinander, aber durch die verdächtigen Seitenblicke ging William davon aus, dass er eines der Gesprächsthemen war.
»Es ist so unfair.« Grummelte er beleidigt.
»Was genau meinst du?« Er sah zu William hinunter.
»Ich meine, warum dürfen die uns herumkommandieren?«
»Wir sind eben einen Rang unter ihnen. So ist das eben.«
»Aber sie tun doch nicht mal was. Ich muss immer alles machen. Ist das bei euch nicht so?«
»Nicht wirklich. Ich hab eigentlich nie was zu tun. Juliette regelt das immer selbst.« William sah ihn ungläubig an.
»Ja, sie ist der Meinung, dass ich es nur falsch machen würde.«
»Eigentlich müssten wir mal tauschen.« William schmunzelte.
»Die werden uns doch sicher nicht lassen.«
»Ach was und fragen kostet schließlich nichts.« Er zuckte mit den Schultern.
Juliette und Geronimo setzten sich unter den Baum und tippten auf ihre Tablets.
William seufzte. »Wie lange wollen die uns noch warten lassen?«
»So wie ich Juliette kenne, könnte es eine Weile dauern.«
»Gefällt dir dieser Job eigentlich?« William sah zu Romeo auf.
»Schon, ich mein, es gibt wahrscheinlich Schlimmeres. Und dir?«
»Also ich finde die Arbeit super, nur das Arbeitsklima ist eine Katastrophe.«
»Ja, unter anderem.« Romeo rieb seinen Arm etwas unwohl.
Geronimo legte seinen Kopf auf Juliettes Schulter, während er tippte.
»Wie lang ist unsere Schicht noch?«
»4 Stunden, 48 Minuten und 26 Sekunden.«
»Dann habe ich wenigstens noch etwas Zeit, bei Jenny und Luna vorbeizuschauen.«
»Müsst ihr nicht auf Patrouille?«
»Ne, da hat uns Geronimo rausgeredet. Du weißt ja, wie ungern er die Stadt verlässt.«
»Stadtkind.«
»Du sagst es.«
Geronimo sah verwirrt zu Juliette, sie kicherte nur und stieß ihn zu Boden. Sein Tablett fiel zur Seite. Frech grinsend stürzte sie sich auf ihn und überhäufte ihn mit Küssen. Sie schob langsam sein Shirt nach oben und fuhr mit ihrer Hand über sein Sixpack.
William war überfordert und konnte seinen Blick nicht abwenden.
Romeo ging provokant durch sein Blickfeld.
»Komm, lass uns bisschen spazieren gehen. Wenn sie uns brauchen, werden sie uns finden.«
William blinzelte verwirrt und folgte ihm.
Romeo schüttelte enttäuscht den Kopf.
»Was hälst du davon, wenn wir bei deinen Bewohnern vorbeischauen? Luna und Jenny waren es oder?« Er sah zu William.
»Dürfen wir das überhaupt, als zwei niederrangige?«
»Ist doch egal, wer will uns den aufhalten? Der Bürgermeister?«
»Möglich, er kann uns schließlich rauswerfen.«
»Schon, aber wenn fliegen Juliette und Geronimo früher.«
Romeo lächelte und ging mit William die Straße hinunter.